Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
so. Der Geruch hat mehr was vom Meer.
Ja, aber warum vom Meer? Eben waren wir noch einen ordentlichen Fußmarsch vom Meer entfernt. Könntest du mich bitte aufklären, was in der Zwischenzeit passiert ist, liebe Erinnerung?
Tja, vielleicht gestolpert und böse auf den Kopf gefallen? Spekulationen, nur Spekulationen, mehr bekommst du nicht
hin! Wir Sinne können wenigstens sagen, dass wir uns in der Seitenlage befinden, es nach Meer riecht und wir die Herrschaft über unsere Glieder noch nicht zurückhaben. Ach, und wir können keine Schmerzen feststellen. So viel zur Auf-den-Kopf-gefallen-Theorie. Also, was ist passiert?
Das war wirklich eine gute Frage. Während mein Bewusstsein langsam zurückkehrte, blieb ich reglos liegen. Solange ich keine Ahnung hatte, was geschehen war, würde ich nicht den kleinsten Finger krümmen. Das war mir alles zu suspekt.
»Auch wenn es im Nachhinein sinnlos ist, dich darauf hinzuweisen: Das hättest du einfacher haben können«, sagte jemand aus weiter Ferne.
Mühsam öffnete ich meine Augen und sah eine an den Rändern zerfaserte Schwingenspitze. Es fiel mir schwer, sie im Fokus zu behalten, denn es drängte sich immer wieder eine Wand aus Milchglas dazwischen, die verwischte, was ich sah. Dann wurde mir klar, dass ich nicht plötzlich an einer Sehschwäche litt, sondern mich in der Sphäre befand. Wie immer versuchte sie sich meiner Wahrnehmung zu entziehen. Ich war in der Sphäre … Augenblicklich setzte das unangenehme Gefühl ein, ein Fremdkörper zu sein, den es hinauszudrängen galt. Dabei hatte ich so darauf gehofft, dieses Gefühl niemals wieder erleben zu müssen. Wenn es einen Ort gab, an dem ich um keinen Preis sein wollte, dann war es die Sphäre.
Wie zum Trost streichelte jemand meine Wange, und Wärme durchströmte meinen Körper, der sich mit einem Schlag äußerst lebendig anfühlte. An meiner linken Hand erwachte der Bernsteinring zum Leben und begann mild zu pochen. Verwunderlich mild, aber vermutlich brauchte er noch ein Weilchen, um sich vom Wechsel in eine andere Welt zu erholen. Ganz im Gegensatz zu mir – ich fühlte
mich nach der Berührung wie elektrisiert. Mir fiel nur eine Person ein, die eine solche Wirkung auf mich hatte: Sam. Als ich mich jedoch aufrichtete, um ihn freudig zu begrüßen, erkannte ich zu meinem Entsetzen, dass eine andere Schattenschwinge vor mir kniete.
»Nikolai … du?«
Ob meine Stimme wegen meiner trockenen Kehle oder doch aus Furcht so heiser krächzte, konnte ich nicht sagen. Auf jeden Fall kehrte die Erinnerung bei seinem Anblick schlagartig zurück. Mühsam unterdrückte ich meinen Fluchtinstinkt. So, wie Nikolai vor mir kniete, sah er überwältigend groß aus. Nicht einmal seine überirdische Schönheit vermochte die Wirkung seiner einschüchternden Ausstrahlung zu mildern. Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Schwingen von einem besonders hellen Grau waren und den gleichen metallisch schimmernden Anstrich hatten wie seine Aura, die in der Sphäre einen Kranz aus Eiszapfen bildete. Dabei war sie mir in der Menschenwelt mild und fast ein wenig zu blass erschienen. Nun befürchtete ich geradezu, mich an ihr zu schneiden. In ihrem Kern waren die Eiszapfen dunkel, als hätte Schmutz das einst aus reinem Wasser entstandene Eis verunreinigt. Oder als kauere ein Schatten tief im Inneren eines jeden Strahls. Nein, das war nicht länger die Aura, von der diese junge Schattenschwinge in der Menschenwelt umgeben worden war. Trotzdem kam sie mir bekannt vor. Wie konnte das nur sein?
»Ja, ich bin es. Nikolai.« Die Art, mit der er es sagte, ließ die Bestätigung wie einen Witz klingen. Ein Witz, den ich langsam zu begreifen begann.
»Verstehe. Nikolai und noch jemand anderes. Aber ich vermute mal, dass du mir nicht verraten willst, wer noch so alles da ist? Ich meine: neben Nikolai.« Eine tollkühne Flucht nach vorn, aber mir blieb nichts anderes übrig.
Anstelle einer Antwort schenkte er mir lediglich ein Lächeln.
»Ich habe dich schon einmal gesehen, aber da wohntest du noch in einem anderen Körper«, bohrte ich weiter, obwohl ich mir keineswegs sicher war, ob ich gerade tapfer oder schlichtweg dumm handelte. Aber ich wollte mir keine Angst machen lassen oder den Mund in vorauseilendem Gehorsam halten, bevor ich nicht ernsthaft dazu gezwungen wurde. »Shirin hat mich in ihre Vergangenheit blicken lassen, musst du wissen. Und da gab es nur einen, dessen Aura so schneidend kalt war wie deine. Die Einzige unter den
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