Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
oben musste er sein. Ich eilte die Treppe hinauf, die Hand am Griff des Katanas. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen, und dann stand ich so unvermittelt vor Ranuken, dass ich ihn fast über den Haufen rannte. Er taumelte durch den kleinen Raum, in dem die Wendeltreppe endete.
»Alter, mal schön langsam. Oder willst du Mus aus mir machen?«
»’tschuldigung«, brachte ich atemlos hervor.
Als ich in Ranukens von Sommersprossen übersätes Gesicht blickte, das trotz der Lage keineswegs angespannt wirkte, wurde mir klar, dass er noch nichts von Shirins Ende wusste. Wie ihre äußere Hülle zu Sand zerfallen war, den die Meeresströmung wegspülte, während sie als Lichtwandlerin neugeboren wurde. Die gläserne Wand hatte die Nachricht von ihm ferngehalten. Ich würde es Ranuken sagen müssen, ihm vor allen anderen, denn er war Shirins Schützling und enger Freund gewesen. Erst Kastor, jetzt Shirin … es schien mir unmöglich, es auszusprechen.
»Warum bist du nicht einfach zur Seite getreten, du unnützeste aller Schattenschwingen?«, schnauzte Rufus ihn unterdessen an. »Bei dem Speed, den Sam draufhatte, wäre er bestimmt durch diese Panzerwand gerast und wir wären unser Problem los. Du weißt schon: das Problem, das deine Wenigkeit nicht aus der Welt schaffen kann.«
Rufus schlug mit der Faust gegen eine für die Festung typische Glaswand, in der sich Wasserdunst verfangen hatte und sie milchig färbte. Als ich neben ihn trat, erkannte ich, warum er die Wand unbedingt überwinden wollte: Auf der anderen Seite zeichnete sich durch den Nebel hindurch Lenas Gesicht ab. Sie lebte!
»Wir haben alles Mögliche versucht, um zu ihr durchzudringen. Diese Glaswand ist schlimmer als Beton und Stahl zusammen. Ich habe mich sogar von diesem Perversling betatschen lassen, aber gebracht hat es nichts, außer dass er vor Verzückung fast eingegangen ist, während Lena sich die Handkanten blutig schlug.« Rufus deutete auf blassrosa Schlieren. Für einen Moment sah es so aus, als kämen ihm die Tränen, doch dann schob er das Kinn vor. So schnell gab Rufus Levander nicht klein bei. »Du hast doch vorhin gezeigt, wie super du darin bist, Dinge mit deinem Heldenschwert aufzubrechen. Jetzt mach mal hinne, ich will zu Lena.«
»Eine Sekunde noch.« Ich nahm mir ein Herz und wandte mich Ranuken zu … um dann doch zu schweigen. Wenn ich es laut aussprach, würde wahr sein, was mir bislang mehr wie ein böser Traum erschien, obwohl ich die Kälte der Klinge, die Shirin mir als Waffe gegen Nikolai überlassen hatte, auf meiner Haut spürte. Noch immer hatte sie nicht die Wärme meines Körpers angenommen.
Ranuken musterte mich nachdenklich. »Was dir auch auf der Seele liegt, es muss noch ein Weilchen warten, mein Bester. Das mit Lena ist jetzt echt wichtig, die ist nämlich regelrecht eingemauert. Die muss da raus, sonst wird sie noch wahnsinnig. Falls sie es nicht schon ist.«
Erleichtert über diesen Aufschub nickte ich, dann bedeutete ich Rufus, beiseitezutreten, für den Fall, dass die Scheibe unter der Berührung des Katanas zersprang. Zu Lena konnte ich nicht durchdringen, das Glas zwischen uns fing jeden Laut ab. Als sie jedoch die rot aufleuchtende Klinge sah, trat sie von allein zurück. Schlaues Mädchen.
Dieses Mal durchschlug das Schwert das Glas nicht, sondern sank hinein, als wäre es nicht fest, sondern so geschmeidig wie Butter. Fast glaubte ich, der Bernstein würde sich mit der transparenten Materie verbinden.
Während die Magie der Klinge sich entfaltete, leuchtete der Name des Schwerts vor meinem geistigen Auge auf. Er umkreiste mich, bis es keine Zeichen mehr waren, sondern eine Stimme, die den Namen sang. Es war Milas Stimme. Sie hatte mir dabei geholfen, dem Katana eine Seele zu geben, und jetzt fühlte es sich an, als wäre sie da und wirke auf die Barriere ein, bis diese schmolz. Wie konnte das sein? Es gab nur eine Erklärung: Das gläserne Gebäude in den Wolken mit seiner silbernen Außenschicht war von Nikolai geschaffen worden – diese eine Wand jedoch nicht, denn alles, was von Nikolai stammte, würde unter der Schneide des Katanas zerbrechen. Diese Wand hingegen zog sich auf den Ruf des Schwertes hin zurück. Es ist Mila gewesen, die ihre Freundin eingesperrt hat, begriff ich. Das Gefängnis, in dem Lena festsaß, war von ihr geschaffen worden.
Diese Erkenntnis setzte mir derartig zu, dass ich nicht einmal reagierte, als die Glaswand verschwunden war und Rufus vorstürzte, um Lena in
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