Schattenspäher
Gefühl des Grauens von ihm Besitz ergriff.
40. KAPITEL
Hoher Priester: Ich fürchte, dann werden wir nie einer Meinung darüber sein, was einen redlichen Mann ausmacht.
Alpaurle: Ist es eigentlich klug, die Meinungsverschiedenheit zu fürchten? Sollten wir sie nicht vielmehr begrüßen?
Hoher Priester: Es ist gewiss besser, in solchen Dingen einer Meinung zu sein.
Alpaurle: Ihr müsst Recht haben, natürlich, denn Ihr seid sehr weise. Doch das meinte ich nicht.
Sollten wir uns nicht über jede Meinungsverschiedenheit freuen vor dem Hintergrund, dass aus einem Streitgespräch auch ein Wissenszuwachs resultieren kann?
Hoher Priester: In Dingen der Moral halte ich den Konsens für unabdingbar. Vieldeutigkeit in diesen Belangen empfinde ich als zutiefst beunruhigend. Alpaurle: Warum?
Hoher Priester: Weil ich natürlich die Wahrheit zu erfahren wünsche.
Alpaurle: Doch was, wenn in der Vieldeutigkeit die Wahrheit gefunden werden kann?
- Alpaurle, aus Gespräche mit dem Hohen Priester von Ulet, Gespräch VI, herausgegeben von Feven IV zu Smaragdstadt
Eisenfuß stürmte auf Silberdun zu, um ihm zur Seite zu stehen, doch Silberdun winkte ab. »Nein! Kümmere dich um Faella!«, brüllte er. »Hilf ihr, die Verwandlung wieder rückgängig zu machen!«
Eisenfuß rannte zurück zu Faella und Sela, während Silberdun einige Meter entfernt mit Hy Pezho rang.
»Sela«, sagte er. »Du, Faella und ich sollten uns wieder zusammentun. Wie zuletzt in der Kirche. Mal sehen, ob wir den Prozess nicht mit vereinten Kräften aufhalten können.«
»Nehmt meine Hände«, sagte Sela. »Ich schaue, was ich tun kann.«
Eisenfuß schloss die Augen und spürte, wie Faella und Sela in ihn hineinströmten. Jetzt war der Moment gekommen, etwas Perfektes zu vollbringen. Jetzt war der Moment, an dem Scheitern keine Option darstellte. Jetzt war der Moment da, zu beweisen, dass man der Beste war.
Eisenfuß durchkämmte Faellas Bewusstsein, doch das erwies sich als schwierig. Sie hatte keine thaumaturgische Übung, keine Ahnung davon, was sie da eigentlich genau tat oder wie sie es tat. Sie war nichts als rohe Kraft, ein Wesen voll purer Intuition.
Und was sie tat - wie auch das, was Lin Vo damals im Arami-Lager getan hatte - lag völlig jenseits von Eisenfuß' Verständnis. All seine Gleichungen, all sein Wissen um die Funktionsweise der Gaben, das alles nützte ihm hier überhaupt nichts. Hier war eine völlig neue Herangehensweise an die Magie vonnöten. Und er musste sich diesem Problem hier und jetzt stellen, während sein Freund mit einem Dämon kämpfte und zwölf rachsüchtige Götter im Begriff waren, sich wieder zu manifestieren.
Was war Eisen? Was war Kobalt? Was lag unterhalb aller Elemente und Innensicht. Worin bestand das Herz der Dinge, jenseits aller Vernunft? Wie lautete der Quotient der Division durch Null?
Silberdun versuchte Hy Pezho das Messer in die Rippen zu stoßen. Hy Pezho besaß die ganze Kraft und Schnelligkeit des Bel Zheret, gegen den Silberdun zuvor gekämpft und verloren hatte, aber er verfügte nicht über Natters Erfahrung. Natters Leben war ganz erfüllt gewesen vom genüsslichen Morden, bevor sich ihre Wege gekreuzt hatten. Hy Pezho mochte vielleicht ein wenig vom Töten verstehen, doch niemals so wie ein wahrer Bel Zheret, der seine Opfer trat, schlug, biss und aufschlitzte.
Sie rollten über den Boden, bis sie gegen das Podest knallten, auf dem Gott Ein stand. Und Gott Ein über ihnen brüllte und zerrte an seinen Fesseln.
Gemeinsam gingen Eisenfuß und Faella den Dingen auf den Grund. Er stellte ihr Fragen ohne Worte, sie lieferte ihm Antworten ohne Gedanken. Und allmählich begann er zu begreifen. Unter ihnen erbebte der Boden, und Sela schrie auf, doch darum konnte sich Eisenfuß im Moment nicht kümmern.
Als er sah, wie Faella gegen ihr Unverständnis ankämpfte und versuchte, mit ihrem gabenlosen re hinauszugreifen, sah Eisenfuß plötzlich etwas. Es war keine Musik ohne Ton, keine farblose Farbe, sondern etwas jenseits von Ton und Farbe. Es war keine gabenlose Gabe, doch das, was weit unterhalb allen Gaben lag, rief sie hervor. Unter Eisen und Kobalt lag etwas anderes, eine tiefere Realität. Eisen und Kobalt waren lediglich Ausdruck eines tieferen Ganzen.
Eine Division durch Null gab es nicht. Das war lediglich eine Zahlenfunktion, die sich auf die Gaben anwenden ließ. Die Gaben jedoch waren nicht die Wirklichkeit. Sie waren eine Sonderform der Wirklichkeit. Die Thaumaturgen, welche die
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