Schattenspiel
London-Sydney Für Freitag, den 15. April. Also morgen.
Wenn die Hunter, diese alte Hexe wüßte, daß heute sein letzter Tag in ihrem blöden Büro gewesen war! Zum letzten Mal: »Ja, Miss Hunter.« »Nein, Miss Hunter.« Er hatte sie sehr freundlich angelächelt, als er ging. »Auf Wiedersehen, Miss Hunter. Bis morgen dann!« Bildete er es sich ein, oder sah sie ihn tatsächlich lauernd an? Aber von Anfang an hatte er das Gefühl gehabt, daß sie um ihn herumschlich wie eine Katze um die Maus. Wahrscheinlich war das einfach ihre Art. Flüchtig tat ihm der arme Trottel leid, der sein Nachfolger werden würde.
Während er die Regent Street entlanglief, Überlegte er, wie der morgige Tag im Büro aussehen würde. Er war in der letzten Zeit öfter zu spät gekommen, so daß es die Hunter nicht als besonders ungewöhnlich empfinden würde, wenn er um acht Uhr nicht an seinem Schreibtisch saß. Sie würde vor sich hin schimpfen und wahrscheinlich beschließen, Mrs. Gray endgültig davon zu überzeugen, daß sie diesen unzuverlässigen Burschen unbedingt hinauswerfen müßte. Aber sie jagte bestimmt nicht gleich zur Polizei. Irgendwie hegte er noch immer eine unbestimmte Furcht, diese Frau könnte ihm in letzter Sekunde eine Falle stellen. In Sicherheit konnte er sich erst fühlen, wenn das Flugzeug in der Luft war — noch besser, wenn er in Sydney ohne Schwierigkeiten die Paßkontrolle passiert hätte. Die Maschine startete
um acht Uhr. Er konnte England seit einer Stunde verlassen haben, ehe die Hunter anfing, sich zu wundern. Zuerst rief sie sicher bei ihm zu Hause an. Wahrscheinlich würde seine Wirtin das Telefon abnehmen. »Nein, Miss Hunter, Mr. Marlowe ist nicht da. Ist er nicht zur Arbeit gekommen?«
Natürlich durfte die Wirtin nicht merken, daß er das Haus viel zu früh verließ, schon gar nicht, daß er einen Koffer bei sich hatte. Aber da hatte Steve wenig Bedenken: Die Wirtin hatte einen gesegneten Schlaf und fand ohnehin meistens erst spät am Vormittag aus dem Bett.
Er besaß fast fünftausend Pfund. Das machte ihn nicht zum reichen Mann, gewiß nicht, aber er konnte eine ganze Weile damit auskommen. Wenn ihn nur eine Bank anstellte! Natürlich würde man auch in Australien auf jenen Vermerk in seinen Papieren stoßen, der auf seine Gefängniszeit hinwies, aber er war überzeugt davon, man würde das dort nicht so eng sehen. Er dachte daran, woraus sich die erste weiße Bevölkerung auf dem fernen Kontinent im Südpazifik rekrutiert hatte: britische Strafgefangene, die man im 19. Jahrhundert auf Schiffen dorthin gebracht hatte, wo sie arbeiten und sich irgendwie durchschlagen mußten. Viele, die heute dort leben, waren Nachfahren von Dieben, Hehlern, Mördern. Fast eine Ironie, daß er sich gerade dort einzureihen gedachte. Aber sehr passend. Wäre er nur erst da!
Ein Instinkt hatte ihm eingegeben, daß es höchste Zeit wäre, jetzt wegzugehen. Keine Woche länger. Das Glück war ihm schon zu lange hold. Natürlich, es kam auf jeden Pence an, und jede Woche, die er länger bliebe, machte ihn reicher. Aber es wuchs auch die Gefahr. Er durfte jetzt nicht leichtsinnig werden, durfte nichts riskieren. Fünftausend Pfund müßten reichen. Damit würde er ein anständiges Leben beginnen. Er sehnte sich so danach. Angepaßt an die bürgerliche Gesellschaft, von denen geachtet, die auf Ehre und Anstand hielten. Das hatte er immer gewollt, nichts sonst.
In einem Herrenbekleidungsgeschäft erstand er einen leichten, weißen Mantel. Gutes Auftreten war jetzt wichtig. Er zögerte,
als er die Uhren in der Auslage eines Juweliers entdeckte. Wenigstens ein neues Lederarmband...Aber dann schüttelte er den Kopf. Alles zu teuer. Er mußte so auskommen.
Je näher er seiner Wohnung kam, desto nervöser wurde er, und er konnte sich das eigenartige Gefühl von Unruhe nicht erklären. Er hatte doch alles sehr genau geplant, nun mußte er seinen Plan nur noch langsam Schritt für Schritt in die Wirklichkeit umsetzen.
Kurz vor dem Trafalgar Square kehrte er um und beschloß, noch irgendwo etwas zu essen. In einer kleinen Pizzeria, deren Besitzer ihn mochte, weil er oft hierherkam, aß er eine Pizza mit Thunfisch, Artischocken, Zwiebeln und Oliven und trank einen Viertelliter Rotwein dazu. Er rauchte langsam zwei Zigaretten und lauschte einem hingehauchten Liebeslied aus der Musicbox. Der Wein ließ ihn sich besser fühlen. Es war kurz nach zehn Uhr.
Der Wirt näherte sich dem Tisch. »Noch einen Kaffee vielleicht?
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