Schattenspiel
«
»Ja, gern.« Er trank sonst nie abends Kaffee, weil er dann die ganze Nacht wach lag. Aber diesmal — er wußte beim besten Willen nicht warum — suchte er einen Aufschub nach dem anderen. Um kurz vor elf schließlich verließ er das Lokal.
Das Haus lag ruhig und still, nirgends ein Licht. Gut so, die Wirtin schlief also. Sie würde ihn nie mehr zu Gesicht bekommen, denn um sechs Uhr am nächsten Morgen würde er das Haus bereits verlassen. Er kramte seinen Schlüssel hervor und steckte ihn gerade ins Schloß, als sich zwei Schatten aus den Forsythiensträuchern rechts und links der Tür lösten.
»Steve Marlowe?« Es handelte sich um zwei Männer in hellen Trenchcoats, der eine von ihnen trug einen Hut, der andere hatte einen Regenschirm über dem Arm hängen. »Sind Sie Mr. Steve Marlowe?«
Im ersten Moment schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, »Nein« zu sagen, aber dann wurde ihm klar, wie absurd es gewesen wäre, und er sagte: »Ja.« Gleichzeitig hatte er das Gefühl, jemand habe ihm in den Magen geschlagen.
»Polizei«, sagte der mit dem Hut und zückte seinen Ausweis.
»Mr. Marlowe, gegen Sie liegt eine Anzeige vor wegen Unterschlagung. Wir müssen Sie leider bitten, mit uns zu kommen.«
»Das kann nicht sein«, behauptete Steve, aber es war ihm dabei, als sei nicht er es, der diese Worte sprach, sondern als habe ein Automat in ihm die Aufgabe übernommen, Sätze und Gedanken zu formen. Er merkte, wie seine Handflächen feucht wurden.
»Eine gewisse Miss Lydia Hunter behauptet, Sie hätten Unterschlagungen in Höhe von mindestens 15000 Pfund begangen. «
»Wie kommt sie denn darauf?« Oh, Gott, die Hunter! Das falsche, alte Weib! Er hatte gespürt, daß sie ihn belauerte, ihn umschlich, ihn ansah, als wisse sie alles von ihm. Warum hatte er seinem Instinkt nicht getraut?
»Miss Hunter hat Beweise. Aber darüber sollten wir hier nicht sprechen. Wenn Sie möchten, begleiten wir Sie hinauf in Ihre Wohnung, damit Sie ein paar Sachen einpacken können.«
Nur das nicht, dachte er panisch, am Ende finden sie das Flugticket. Und mein gepackter Koffer steht in der Ecke!
»Ich brauche nichts mitzunehmen«, sagte er, »denn ich gehe davon aus, daß ich ohnehin bald zurückkehre. Es kann sich nur um einen Irrtum handeln.«
»Wie Sie möchten. Dann kommen Sie bitte mit.«
Während er den beiden Beamten die Straße entlang folgte, fing es an zu regnen. Der Schein der Laterne spiegelte sich im Asphalt. Hier und da brannte Licht in den Häusern, warme, sanfte Helligkeit. Die Regentropfen schlugen Steve ins Gesicht. Warum, dachte er verzweifelt, bin ich nicht schon heute früh geflogen?
Er dachte an die Warnungen seines Unterbewußtseins, daran, wie er seine Rückkehr den ganzen Abend über hinausgezögert hatte. Du Narr! Du verdammter Narr!
Sie hatten das Auto erreicht, es stand in einer Seitenstraße. Natürlich, die waren ja keine Anfänger, und ein Auto vor dem Haus hätte sein Mißtrauen erregen können. Er mußte sich auf den Rücksitz setzen, einer der Männer nahm neben ihm Platz,
der andere am Steuer. Gleichmäßig streiften die Scheibenwischer über die Wmdschutzscheibe. Nur wenige Autos kamen ihnen entgegen. Es war nicht viel los in London, in dieser verregneten Nacht.
Steve starrte auf seine Hände, die ineinander verkrampft in seinem Schoß lagen. Wenn ich wieder ins Gefängnis muß, bringe ich mich um!
Er merkte nicht, daß ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
August 1983
1
Natalie überlegte, wie das amerikanische Publikum wohl reagierte, wenn sie die Gelegenheit nutzen und ihm reinen Wein einschenken würde. »Ich kann jeden einzelnen Tag meines Lebens nur überstehen, wenn ich 30 mg Valium schlucke. Ich bin gut, weil ich vollkommen zugepumpt bin mit dem Zeug. Was meinen Sie, was passiert, wenn ich es weglasse? Ich fürchte, keiner von Ihnen würde mich wiedererkennen ...«
Eigenartig, dachte Natalie, selbst einmal Gast einer Talkshow zu sein. Ein dreiviertel Jahr hatte sie im amerikanischen Fernsehen Berühmtheiten interviewt und war damit zu einer bekannten Person in den USA geworden. Sie hatte Einschaltquoten von 30%. »Mehr kriegt Ronald Reagan auch nicht«, hatte ihr Produzent einmal gesagt. Natalie empfand es als Ehre, bei Amerikas berühmtestem Talkmaster eingeladen zu sein, aber natürlich war sie durch sämtliche Höllen des Lampenfiebers gegangen.
»Sie kennen sich in Fernsehstudios ja bestens aus«, hatte Carson zu ihr gesagt, als sie vor der Sendung miteinander
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