Schattenspiel
Altar, auf dem das Kostbarste aufgebahrt lag – die Erinnerung.
Keiner von euch hat versucht, es herauszufinden, dachte er zornig, nicht einmal die neunmalkluge Natalie, die glaubt, eine ganz große Psychologin zu sein.
»Wir hatten eine gute Zeit damals«, sagte Mary ganz arglos.
»Die beste unseres Lebens«, ergänzte Gina. Sie schwiegen, und nun dachten sie alle über die Jahre zurück an vergangene Tage, in denen ihnen alles sehr leicht und einfach vorgekommen war und sie ihrem Leben wie einem verlockenden Abenteuer entgegengeblickt hatten. Sie dachten an Sommerabende in Saint
Clare, dem vornehmen Internat, das sie besucht hatten, an den rötlich gefärbten Sonnenschein, der über windgezausten Gräsern und auf der Baumrinde lag, an die Weichheit der Luft und an das lichte Blau des Himmels. Brombeerhecken wucherten über halbverfallenen steinernen Mauern, und entlang den Wänden des Hauses kletterte uralter Efeu. Saint Clare hatte immer etwas von einem verwunschenen Schloß gehabt; Haus und Park waren aus einer anderen Zeit und hatten die vorübergleitenden Jahrhunderte unberührt überstanden, würden für immer hochmütig in ihrer eigenen Welt verharren. Natalie erinnerte sich, daß sie stets das Gefühl gehabt hatte, die wirkliche Welt bliebe hinter ihr zurück, wenn sie die Pforte passierte und unter der Allee von Eichen dem Portal zuging. Mit den Fingern hatte sie das Moos in den Mauerritzen gestreichelt, und eine friedvolle Stimmung hatte sich über ihr Gemüt gebreitet.
»Wir lebten zu behütet«, sagte sie jetzt, »zu abgeschirmt. Als dann später schließlich jeder irgendwie auf seine Nase fiel, mußte es uns besonders hart vorkommen.«
»Diese vollkommenen Idyllen zahlen sich wirklich nicht aus«, bemerkte Gina.
Komisch, wie viele Erinnerungen wach werden, wenn man die alten Freunde wiedertrifft, dachte Mary. Ihr war eingefallen, was Gina zu ihr gesagt hatte, nach dem schrecklichen Reinfall mit Leonard, dem Vater ihres Kindes: »Solche Männer sind gut für verträumte Mädchen wie uns, Mary. Sie machen uns hart.«
»Was ist gut daran, hart zu werden und die Träume zu verlieren?«
»Wenn du hart bist, überstehst du das Leben besser. Das Leben ist kein Traum.«
Der Butler erschien, räumte lautlos und schnell das Geschirr beiseite und trug das Dessert auf.
»Ich kann schon nicht mehr ›pap‹ sagen«, seufzte Gina.
David musterte Natalie, die gerade zum Fenster hinaussah und ihm ihr feingemeißeltes Profil zuwandte. »Wie ich höre, will deine Freundin Claudine Combe demnächst wieder filmen«, sagte er anzüglich.
Natalie fuhr herum. »Woher hast du denn das?«
»Man hört so manches.«
»Du kannst überhaupt nichts gehört haben, David. Sie will nie wieder filmen, und der einzige Mensch, dem sie erzählt hat, daß sie sich – aus rein freundschaftlichen Gründen – ein Drehbuch angesehen hat, bin ich.« Ihre Augen wurden schmal. »Hörst du mein Telefon ab, David?«
»Das wäre ja ein starkes Stück!« rief Steve. »Wenn er Nat abhört, dann vermutlich uns alle! Hör mal, David, ich ...«
David wirkte nicht im mindesten peinlich berührt. Gina hatte sogar den Eindruck, er habe sich absichtlich so plump verraten, um eine Situation wie diese heraufzubeschwören. Er wollte provozieren, dachte sie, er möchte, daß es heute abend zu einem Eklat kommt. Bloß – was hat er davon?
»Freunde, ich bin kein Anfänger«, erklärte er. »Natürlich habe ich Abhöranlagen in allen Gästezimmern. Ich sehe mich eben vor. Man ist umgeben von Feinden.«
»Ach... du leidest nicht vielleicht ein bißchen an Verfolgungswahn? « erkundigte sich Gina spitz. Er erwiderte ihren spöttischen Blick gelassen. »Von Wahn kann gar keine Rede sein, wenn es Tatsachen gibt.«
Gina lachte. »Wie üblich drückt sich unser lieber David sehr geheimnisvoll aus. Im Ernst, mein Schatz: Hörst du uns wirklich ab?«
»Ja.«
Für ein paar Sekunden schwiegen alle, perplex über Davids schamlose Offenheit.
Laura machte erschreckte Augen. »Also David, ich finde ...«
Heftig fuhr er sie an: »Du hältst dich da raus, ja? Diese Geschichte geht dich nichts an!«
»Woher soll ich wissen, wann mich die Dinge, die dich betreffen, etwas angehen und wann nicht? Manchmal frage ich mich, ob du mich überhaupt als zu deinem Leben gehörend ansiehst!«
»Ich werde nie verstehen«, sagte David, »warum Frauen aus allem, wirklich aus allem eine Grundsatzdebatte machen müssen, und das dann auch noch im ungeeignetsten
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