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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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phantasieloser Mensch. Nicht einmal der Beruf als Polizeibeamter in Manhattan konnte ihn aus seiner Trägheit aufschrecken. Kelly erinnerte sich, wie er einmal mit ihm zusammen einen Mafia-Mord aufzuklären gehabt hatte. Ein altes Ehepaar, dessen Zeugenaussage für gewisse Leute aus der Mafia-Szene äußerst belastend gewesen wäre, war in seiner Wohnung grausam hingemetzelt worden, und als Kelly und Bride erschienen, um den Tatort zu besichtigen, hatte es allen Polizisten, einschließlich Kelly, den Magen umgedreht. Nur Bride blieb gelassen, er ärgerte sich bloß, daß durch die Übelkeit der anderen die Ermittlungsarbeiten verzögert wurden, und es länger dauerte, bis er zu seinem Feierabend kam.
    »Nein, mir ist es nie so gegangen«, erwiderte er nun auf Kellys Frage. Er gähnte noch einmal und dachte sehnsüchtig an ein schönes, gemütliches Frühstück.
    Kelly griff nach dem Ordner, der neben ihm auf einem kleinen Tischchen gelegen hatte. »Und«, sagte er, »wir haben das hier! Fünfhundert Schreibmaschinenseiten, geschrieben von David Bellino. ›Nach meinem Tod zu lesen‹. Die Lebensläufe seiner Freunde, von deren Kindheit an bis heute. Offenbar handelt es sich um Bellinos Lebensbeichte, sehr schonungslos und offen. Danach hätte anscheinend jeder seiner Freunde ein Motiv, ihn zu töten.«
    Wir sind hier nicht in einem Hollywoodfilm, dachte Bride mißgelaunt.
    »Hier, gleich zu Beginn schreibt er: Es könnte sein, daß einer
meiner Freunde die Drohbriefe geschrieben hat. Einer meiner Freunde könnte mich vielleicht umbringen. Jeder hätte einen Grund, und ich halte jeden eines Verbrechens für fähig. Ich bin der Menschheit gegenüber äußerst mißtrauisch, und es gibt niemanden, von dem ich nicht glaube, daß er seinen nächsten Verwandten ermorden würde, wenn es ihm einen Vorteil bringt oder wenn er seine Rachsucht oder irgendeine andere aufgeputschte Emotion damit befriedigen könnte. Jeder ist ein potentieller Verbrecher, und Gott schütze mich vor ihnen allen! Ich habe immer versucht, ihre Freundschaft zu erringen, nun bleibt mir wohl nur noch ihr Haß.«
    »Hirngespinste«, murmelte Bride.
    »Hirngespinste? Vielleicht. Wir müssen das alles nachprüfen. Ich finde das ganze Drama interessant, das sich hier vor mir aufblättert. « Er erhob sich, den Ordner in der Hand. »Mal sehen, was unsere vier Freunde dazu sagen.«
     
    Der Butler hatte einen Brunch serviert. Zucchinischnitten, Rührei und Baguette, danach einen Schokoladenkuchen und zwei große Kannen Kaffee. Die Gäste saßen im Eßzimmer, das von der Spurensicherung inzwischen freigegeben worden war. Jemand hatte den Fernseher eingeschaltet; die Nachrichten zeigten wie ständig in den letzten Tagen Bilder aus Berlin, das geöffnete Brandenburger Tor, Menschen, die sich auf der berüchtigten Mauer drängelten. Dann Rumänien, noch immer Straßenkämpfe überall, nachdem der Diktator Ceaucescu vor wenigen Tagen hingerichtet worden war. Hier im Zimmer prasselte ein gemütliches Feuer im Kamin; draußen schien ein dämmriger Mittag bereits wieder in einen dämmrigen Abend überzugehen. Ein Tag, an dem es nicht hell wurde. Über Manhattan fiel Schnee.
    Laura hatte sich, als das Essen gebracht wurde, zu den anderen gesellt, aber kaum etwas angerührt. Sie trank nur Kaffee, aß ein winziges Stückchen von dem Kuchen und rauchte eine Zigarette. Ungeschminkt, die Haare aus dem Gesicht gekämmt, sah sie noch jünger aus als gestern. Ihre langen Beine steckten in
einem Paar uralter Jeans, dazu trug sie einen schwarzen Mohairpullover und an den Füßen schwarze Cowboystiefel. Ihre Hände zitterten leicht.
    Natalie hatte gerade wieder eine Valiumtablette geschluckt und kauerte in einer Ecke. Steve starrte in die Flammen, Mary las in einem Buch, aber da sie seit einer Stunde keine Seite mehr umgeblättert hatte, war sie wohl mit ihren Gedanken woanders. Gina, noch immer im Bademantel, lief im Zimmer herum und wurde zunehmend wütend.
    »Soll ich hier rumsitzen, bis ich alt und grau bin?« fragte sie zornig. »Wißt ihr, ich glaube auch nicht, daß dieser Kelly oder wie er heißt, das Recht hat, uns hier festzuhalten! Warum auch? Jemand hat David erschossen, okay, das stimmt wahrscheinlich niemanden besonders traurig, aber trotzdem ist es keiner von uns gewesen. Ich verstehe nicht, wie es noch irgendeinen Zweifel darüber geben kann, daß es diese ominösen Einbrecher waren!«
    »Keiner von uns hat ein Alibi!« bemerkte Natalie. »Damit sind wir alle

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