Schattenstunde
Ärger gibt, muss man abhauen.«
»Aber du willst nicht?«
»Oh, ich
will
schon. Ich denke darüber nach, seitdem wir hier sind. Mein Dad ist da draußen, irgendwo da draußen, vielleicht hat er Schwierigkeiten, und ich sitze mir inzwischen in einer betreuten Wohngruppe den Hintern breit? Gehe zu meinen Unterrichtsstunden? Hänge mit Derek rum? Benehme mich, als wäre alles in bester Ordnung? Es macht mich
wahnsinnig
, Chloe. Und Derek weiß genau, wie sehr ich hier raus will. Wie gesagt, er weiß genau, welche Knöpfe er bei mir drücken muss.«
»Wo ist denn dein Dad?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir wissen’s nicht. Er ist einfach … Es sind ein paar Sachen schiefgegangen, und er ist verschwunden, und wir sind hier gelandet. Es ist eine lange Geschichte.«
»Dann kann es warten.«
»Danke. Jedenfalls, er ist verschwunden, und ich bin mir sicher, er hat das nicht freiwillig gemacht. Also sind wir jetzt hier und warten angeblich nur drauf, dass wir entlassen werden, aber was dann? Wohin sollen wir gehen? Wir haben keine Oma und keinen Großonkel und keine Freundin der Familie, keinen, der nur drauf wartet, uns aufzunehmen. Wir würden zu Pflegeeltern kommen, und dann müssten wir eben von dort aus abhauen. Worauf warten wir also?«
»Du willst hier raus, aber du kommst nicht raus?«
»Wir kämen raus. Derek hat einen Plan.« Ein leises Lachen. »Glaub mir, der Typ hat immer einen Plan. Aber es ist ein Fluchtplan für einen – mich. Er würde nicht mitkommen. Weigert sich strikt.«
»Was? Er redet dir ein schlechtes Gewissen ein, weil du hier bleibst, aber er weigert sich selbst zu gehen? Was bildet der sich eigentlich ein?«
»Yeah, ich weiß, und ich will mich jetzt auch nicht anhören, als ob ich ihn verteidigen wollte, aber es gibt einen Grund dafür, dass er nicht gehen will. Es ist ein dämlicher Grund, aber in seinen Augen sieht das ein bisschen anders aus, und es hat keinen Zweck, es ihm ausreden zu wollen. Er kriegt dann bloß Zustände.«
»Zustände?«
Simon öffnete und schloss die Faust und starrte auf sie hinunter. »Es ist kompliziert. Jedenfalls, Derek hätte gern, dass ich gehe und Dad finde. Dad hat mir Methoden beigebracht, wie ich ihn kontaktieren kann. Formeln und solches Zeug. Aber ich kann Derek nicht hierlassen.«
»Du kannst nicht?«
»Will nicht, nehme ich an. Ich mache mir Sorgen wegen Dad, aber der kann auf sich aufpassen. Viel besser, als Derek es kann.«
Ich muss etwas skeptisch ausgesehen haben, denn er sprach weiter: »Ich weiß, Derek macht den Eindruck, als ob er’s könnte, und in vieler Hinsicht kann er’s auch, aber in mancher …«, er schüttelte den Kopf, »… es ist kompliziert. Wenn ich hier verschwinde und irgendwas schiefgeht, dann fürchte ich, er würde es einfach … schiefgehen lassen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich weiß.« Er starrte auf seine Hände hinunter. »Ich weiß, dass das alles absolut keinen Sinn ergibt, aber …«
»Es ist kompliziert.«
»Yeah. Aber …«, er holte Luft, »allmählich habe ich das Gefühl, ich muss das Risiko einfach eingehen. Derek hat recht. Hier auf dem Hintern zu sitzen bringt uns nicht weiter. Und jetzt müssen wir außerdem auch noch an dich denken. Du musst wirklich raus hier.«
»Ich muss …?« Die Worte kamen schrill heraus.
»Derek hat recht. Ganz egal, wie viel Mühe wir uns geben, deine Begabung geheim zu halten – sie ist einfach nicht wie meine. Man
kann
so was nicht geheim halten. Nicht, wenn man unter einem Mikroskop lebt.«
»Wenn sie mich wirklich in ein Krankenhaus verlegen, werde ich das auch noch überstehen.«
»Aber was, wenn es nicht wirklich eine Verlegung ist?« Er sah zu mir herüber, sein Blick war besorgt. »Was du da über Liz gesagt hast, lässt mich nicht los. Vielleicht ist sie eine Schamanin. Und wenn sie wirklich tot ist, war es vielleicht ein Unfall. Warum sollen die hier Jugendliche umbringen, wenn sie keine Fortschritte machen? Es hört sich komplett verrückt an, aber sogar Derek macht sich Sorgen.«
»Derek? Aber er hat gesagt …«
»Ich weiß, was er gesagt hat. Aber hinterher, als ich mit ihm geredet habe, hat er es nicht mehr so ohne weiteres abgetan. Hat sogar selbst noch ein paar Fragen aufgebracht. Eine deutlichere Zustimmung wird man von Derek nie bekommen. Aber du würdest immer noch jemanden brauchen, der dir hilft. Nehmen wir an, es läuft alles bestens, und du wirst entlassen, was machst du dann? Mit wem redest du drüber? Wie sollst du
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