Schattentänzer
waren sie erstarrt.
»Warum war er denn nicht sofort tot?«, wollte Alistan Markhouse wissen.
»Das ist ganz einfach. Seht her!«
Der Elf zog ohne jeden Ekel die Oberlippe des Menschen hoch, um die Fangzähne zu entblößen.
»Wo soll das nur enden?!«, stieß der Hauptmann aus. »In einer Nacht ein H’san’kor und ein …« Alistan Markhouse stockte.
»Ein Vampir, Mylord. Nichts anderes als ein Vampir.«
»Vampire gibt es nicht!«, schnaubte Hallas verächtlich und ließ das abgeschlagene Horn des H’san’kor in seiner Hand kreisen. »Das ist ein Märchen! Genau wie das …«
Der Gnom stierte auf das Horn und brachte kein Wort mehr heraus.
»Ein Märchen? Und wer hat mich dann gepackt? Ein Geist?« Mein Herz raste immer noch wie wild.
»Vampire gibt es. Dass ihr sie bislang nicht gesehen habt, besagt gar nichts«, erklärte Egrassa, während er die Fänge des Vampirs behutsam betastete. »Nun wissen wir auch, warum er die Schreckliche Flöte überwältigen und bis zu unserer Ankunft überleben konnte.«
»Er hat dich doch nicht gebissen, oder?«, fragte mich der Zwerg plötzlich.
Sofort fuhr meine Hand zum Hals. »Nein.«
»Mylord Alistan, vielleicht sollten wir … in diesen Vampir … einen Pfahl aus Espenholz rammen? Sicherheitshalber.«
»Er ist tot, Hallas, also rede keinen Unsinn!«, antwortete Aal an Markhouse’ Stelle.
»Ja, jetzt ist er tot. Aber nachher springt er womöglich wieder rum und will uns das Blut aussaugen!«
»Hallas, du hast zu viele Märchen gehört! Vampire sind genau wie wir Menschen, nur schneller und stärker. Und sie trinken Blut. Du tötest sie mit Stahl – nicht mit Espenholz, Silber, Knoblauch oder dem Sonnenlicht. Das ist alles Humbug! Genau wie die Mär, dass sich Vampire in Nebel oder Fledermäuse verwandeln! Ah!« Egrassa hatte die Kette mit dem Kristall bemerkt, nahm sie ab und zeigte sie uns. »Ihr wisst, was das ist, Mylord?«
»Das glaub ich nicht!«, presste Alistan heraus.
»Was ist es denn?«, hakte Lämpler nach, der den rauchfarbenen Kristall beäugte, als sei er eine Giftschlange.
»Das ist das Zeichen vom Orden der Grauen, Lämpler«, antwortete Aal.
Hallas krächzte auf, Deler stieß einen Pfiff aus, nahm den Helm ab und kratzte sich den Nacken.
Der Orden der Grauen. Ich wusste nur wenig über ihn. Allen anderen erging es übrigens genauso. Mein Wissen erschöpfte sich in dem, was ich in Schenken gehört und in einem Buch meines Lehrers For gelesen hatte. Weit im Kalten Meer gab es eine Insel, die im Volksmund die Insel der Grauen hieß. Das kleine, durch Magie geschützte Eiland verdankte seinen Namen dem Orden der Grauen, der dort residierte. Die Grauen galten als unbezwingbare Krieger, die von frühester Kindheit an ausgebildet wurden. Es ging das Gerücht, ein einziger Grauer könne es mit fünfzehn erfahrenen Soldaten aufnehmen und sie mühelos ins Dunkel schicken. Natürlich fand sich in jeder Schenke ein kühner Held, der einem dieser geheimnisumwitterten Krieger bereits Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Nach einem Gläschen zu viel wusste dieser wackere Mann dann in den schillerndsten Farben zu berichten, wie der Graue erst hundert Ritter besiegt und anschließend einen Drachen bezwungen hatte.
Es entzog sich meiner Kenntnis, wie übertrieben diese Geschichten waren – doch selbst in den dümmsten Gerüchten steckt ja meist noch ein Körnchen Wahrheit.
Angeblich sollten die Grauen die Hüter des Gleichgewichts in Siala sein. Sie verließen ihre Insel nur, wenn eine der Schalen an der Waage des Gleichgewichts sich zu senken drohte. Mit einfachen Worten ausgedrückt (auch wenn das nicht ganz stimmt): Es war den Grauen einerlei, wohin die Welt driftete, zum Guten oder zum Bösen, sie würden sich immer auf die schwächere Seite stellen, um das Gleichgewicht zu bewahren. Gewann das Gute Oberhand, so hielten sie es mit dem Bösen, obsiegte aber das Böse, dann unterstützten sie das Gute. Für sie spielte es keine Rolle, welche Ziele oder Ideale jemand verfolgte, ob er Friede in der ganzen Welt oder das Böse im Universum anstrebte. Sobald dieser Jemand das Gleichgewicht störte, würden sie versuchen, ihn aufzuhalten. Zunächst mit Worten, dann mit … Hervorragende Krieger und exzellente Magier, wie die Grauen waren, fanden sie stets einen Weg.
»Seid Ihr auch wirklich sicher, dass es ein Grauer ist?«, fragte Hallas erschüttert.
Egrassa stand auf und warf dem Gnom den Kristall zu. »Sieh dir diesen Stein an, Hallas.
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