Schattentänzer
sah. Trotzdem wollte ich das »Feuer« nicht heller aufflammen lassen, denn inzwischen musste ich mit meinen Lichtquellen streng haushalten.
In meinem früheren Leben an der Tagesoberfläche hatte ich geahnt, wie grauenvoll es in den Beinernen Palästen werden würde. Inzwischen wusste ich, dass die Wirklichkeit noch schlimmer aussah.
Ich war völlig allein, stapfte in fast undurchdringlicher Dunkelheit in die Tiefe, meine Vorräte gingen zur Neige, und obendrein hatte ich mir auch noch den Schlüssel für das Flügeltor abnehmen lassen. Worauf hoffte ich da noch?! Auf ein Wunder? Das musste dann allerdings ein ganz erhebliches Wunder sein, von den Göttern persönlich gewirkt. Aber da konnte ich mich beruhigt zurücklehnen: Die Herren und Damen Götter standen ja schon allesamt Schlange, um einem gewissen Garrett das Leben zu retten.
Die zahllosen schwarzen Treppen in diesem Saal schossen hier in die Höhe und bohrten sich dort wie ein Korkenzieher in die Tiefe. Und alle Treppen sahen völlig gleich aus, als hätten die Baumeister etwas mit ihnen bezweckt, das sich mir nicht erschloss.
Lange lief ich zwischen ihnen herum, manchmal berührte ich mit den Fingern den kühlen Stein. Immer wieder lauschte ich in die Stille, doch der Onyx schluckte alle Geräusche – dachte ich zumindest, bis ich den Schrei hörte. Nein, nicht einmal hörte, sondern eher spürte. Ein Schrei, der abriss, kaum dass ich ihn vernommen hatte, und sehr weit weg schien.
Ich blieb stehen und horchte. Nichts. Schließlich kam ich zu einem Saal, in dem es Licht gab. Eiligst befahl ich meinem »Feuer« zu verlöschen.
Der Eingang war genauso hoch und breit wie das Flügeltor. Genau wie vor den Sälen des Schlummernden Echos hielten auch hier zwei Statuen Wache, rechts ein Ork, links ein Elf. Der Ork stach sich mit ausdrucksloser Miene mit einem Stilett das rechte Auge aus, an der Stelle des linken Auges klaffte bereits die leere Höhle. Es schüttelte mich, so lebensecht wirkte die fünfmannshohe Statue. Der Bildhauer musste sein Talent unmittelbar von den Göttern erhalten haben (wie im Übrigen alle Skulpturen in Hrad Spine).
Das Schwert des Elfen lag zu seinen nackten Füßen, der Griff wies in meine Richtung. Ich schnaubte. Seit wann verzichtet ein Elf freiwillig auf seine Waffe?! Doch der Elf hatte nicht nur seine Klinge abgelegt, er presste auch die Hände vor die Augen, vermutlich um sie gegen jeden spitzen Gegenstand zu schützen. Was beim Dunkel sollten diese beiden Statuen ausdrücken?
Obendrein fanden sich auf dem Boden Schriftzeichen. Gerade als ich den Saal betreten wollte, leuchteten die Buchstaben auf und heischten mit perlfarbenem Licht meine Aufmerksamkeit.
Zunächst waren es die üblichen Orkkrakel, dann verschwammen diese Schnörkel jedoch und fügten sich zu kleineren Quadraten, Kreisen und Dreiecken, wie sie Gnome und Zwerge benutzen. Nur kurz darauf vermischten sich auch diese wieder und verwandelten sich in die Buchstaben, die wir Menschen verwenden.
Hier ruhen in ewigem Schlaf neunundsechzig Herrscher aus dem Hause des Weißen Blattes. Wenn du ein Gnom, Zwerg, Mensch oder das Kind einer anderen Rasse und des Lesens kundig bist, dann beschwören wir dich, diejenigen, welche die Ruhe der Toten schützen, nicht zu behelligen und einen anderen Weg zu deinem Ziel zu suchen.
Wenn du jedoch ein elender Ork oder ein starrsinniger Kopf bist, bei dem die Stimme des Verstandes auf taube Ohren stößt, oder ein des Lesens unkundiger Banause, dann tritt ein, stelle dich dem Schicksal, das die Götter dir bestimmt haben, und klage nicht, du seist nicht gewarnt worden.
Die Buchstaben leuchteten noch eine Weile, ehe sie sich wieder zu den orkischen Haken fügten und schließlich verblassten. In dieser Sekunde dachte ich wohl zum ersten Mal ernsthaft daran, auf die Karten zu pfeifen und einen anderen Weg zur sechsten Terrasse zu suchen.
Ich zähle mich zu den Menschen, die ihrer inneren Stimme Gehör schenken. Dank ihrer erfreute ich mich ja überhaupt noch meines Lebens. Elfen warnen einen Wandersmann nicht ohne guten Grund vor einer Gefahr. Also sollte ich mir die Worte besser zu Herzen nehmen und nicht in dieses Natternnest kriechen.
Sofern die Karten nicht logen, trennten mich von hier aus nur noch wenige Säle vom Zugang zur sechsten Terrasse. Ein Umweg würde mich dagegen gut anderthalb Tage kosten – und diese Zeit hatte ich nicht, denn ich lag doch ohnehin schon hinter allen zeitlichen Plänen zurück.
Und
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