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Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schattentag: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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taste nach dem Band, hinter dem die abgesperrte Zone beginnt. Ich sehe die Polizisten, die dort arbeiten, als Schattenrisse, sie bewegen sich nicht. Das Plätschern von Wasser, ich bin schon nah, ich sehe die Konturen des toten Körpers, ich bücke mich und strecke die Hand nach ihm aus. Ich spüre das Wasser an meinen Schuhen, meinen Beinen, ich greife nach dem Körper, ich spüre durchnässte Kleidung, ich taste die Haut, das Gesicht des Toten.
    »Was ist das für ein Spinner? Schafft den da weg!« Das ist Maras Stimme, sie spricht den Text, den eigentlich jetzt einer der Polizisten sprechen müsste, und sie antwortet selbst: »Er gehört zu mir, lassen Sie mich das machen.« Sie ist bei mir, sie ist mir gefolgt, sie ist über die glitschigen Klippen hinter mir hergelaufen.
    »Komm jetzt«, sagt sie.
    »Siehst du den Mann? Wie sieht er aus?«
    »Ich kann nichts erkennen, es ist dunkel. Du bist durch eine Absperrung gelaufen. Komm jetzt.«
    »Ich habe … ihn schreien hören. Vom Balkon aus, hast du auch etwas gehört?«, frage ich.
    »Nein. Komm jetzt«, sagt Mara.
    »Aber das stimmt ja auch gar nicht!«
    »Was?«
    »Das stimmt ja gar nicht, was ich sage. Ich habe auf dem Balkon keinen Schrei gehört, sondern ich habe selbst geschrien. Das Ganze passt doch gar nicht, was hat das eigentlich alles für einen Sinn?!«
    »Liegt da ein Toter oder nicht?«
    »Was weiß ich. Ich sehe nichts!«
    »Komm«, sagt Mara. Ich spüre ihre Hand. »Lass uns gehen.«
    »Aber das Feuerwerk war schön«, sage ich. »Es hat dir doch gefallen? Sag, dass es dir gefallen hat, Mara.«
    »Natürlich. Es hat mir gefallen.«
    Mara führt mich über die Klippen zurück.
    »Sag, dass es ein schöner Abend war, Mara.«
    Mara schweigt, sie läuft zielstrebig, der Nebel, den das Feuerwerk hinterlassen hat, scheint sich zu lichten, die Luft ist klar.
    Ich spüre, wie Maras rotes Holzhaus sich nähert und wie Mara den Druck ihrer Hand in meiner verstärkt.
    Ich taste nach der Wunde, und obwohl ich sie nicht finde, glaube ich zu spüren, dass sie verheilt.

13
    Winter. Der Bungalow ist von Schnee bedeckt. Sandra freut sich darüber, sie rodelt mit Olli den kleinen Abhang in unserem Garten hinunter. Sie sitzen zu zweit auf einem Schlitten aus Holz, und ihre Fahrt dauert immer nur wenige Sekunden, weil der Abhang zum Schlittenfahren zu kurz und zu flach ist. Aber Sandra und Olli haben viel Spaß an der Sache, und morgen ist Weihnachten.
    »Weiße Weihnachten«, sagt Vera. Sie fährt mir mit der Hand durchs Haar und folgt meinem Blick nach draußen in den Garten, in dem Sandra und Olli Schlitten fahren.
    »Ja«, sage ich.
    »Oder meinst du, bis morgen ist der Schnee schon geschmolzen?«
    »Nein«, sage ich.
    Und der Löwe läuft federnd und guter Dinge tiefer in den Wald hinein. Zielstrebig, er scheint genau zu wissen, was er will, sein Schritt ist leicht und sein Gesichtsausdruck immer gleich, der Löwe lächelt und läuft im Schatten saftig grüner Bäume, und ab und zu bricht die Sonne durch, und der Himmel ist blau.
    Nach einer Weile begegnet der Löwe einem Goldfisch, der vor ihm auf dem trockenen Boden liegt und mit den Kiemen wedelt. Seine Reise sei hier zu Ende, japst der Fisch, es sei denn, der Löwe erfülle seine vierte Aufgabe.
    »Und die wäre?«, fragt der Löwe.
    »Na, was wohl, füll mein Glas mit Wasser und wirf mich rein!«, stößt der Fisch mühsam hervor, und erst jetzt sieht der Löwe, dass im Schatten eines Baumes ein kugelrundes Glas liegt, und er geht hin, hebt es auf und stellt es neben dem Goldfisch ab, aber das Wasser, das in dem Glas war, ist längst in der heißen, trockenen Erde versickert.
    »Woher soll ich denn das Wasser nehmen?«, fragt der Löwe, und der Goldfisch starrt ihn an, fassungslos oder hasserfüllt, in jedem Fall so, dass der Löwe ein wenig zurückweicht.
    »Na, woher wohl? Du sollst weinen, weine endlich!«, sagt der Fisch, und der Löwe beugt sich über das Glas und beginnt zu weinen, und langsam aber stetig füllt sich das Glas mit Tränen, und als es voll ist, nimmt der Löwe den Fisch und wirft ihn hinein.
    »Allzeit gute Reise!«, sagt der Fisch noch, bevor er die Augen schließt und sich, von Angst befreit, auf den Grund des Glases sinken lässt, und der Löwe läuft federnd und guter Dinge tiefer in den Wald hinein.
    Die Grundfarbe ist Weiß. Vera steht seit Stunden in der Küche, Sandra liegt in ihrem Zimmer auf dem Bett und übt sich mit Fernsehen in Geduld. Ich stehe vor dem Tannenbaum, der mit

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