Schattentraeumer - Roman
über das Begräbnis, und die Wut, die er dabei empfand,
hinterließ einen starken metallischen Geschmack auf seiner Zunge. Grivas’ Tod hätte das Ende einer Ära bezeichnen können,
einer heldenhaften Zeit, die durch Enttäuschung fadenscheinig geworden war – stattdessen erschien er ihm wie der Vorbote von
schlimmeren Zeiten.
Dhespina duckte sich instinktiv vor der Attacke zweier nistender Schwalben, die flügelschlagend im Sturzflug auf sie zuschossen.
Ihr wütender Angriff war lästig, aber auch verständlich, und so mussten die jungen Bäume eben noch ein wenig warten, bis sie
beschnitten wurden. Sie kehrte ins Haus zurück, doch auch dort fand sie keinen Frieden, denn zwischen den Wänden kam es ihr
unerträglich still vor. Es schien kaum Sekunden her zu sein, dass fünf lärmende Söhne um sie herumgetobt waren, deren Jugend
aus der Küche ins Wohnzimmer und die Treppen hinauf in die Schlafzimmer tönte. Diese Kinder waren nun nur noch Erinnerungen.
Christakis kämpfte inzwischen gegen das Chaos an, das seine eigenen ungestümen Jungs anrichteten; Michalakis war an seine
Arbeit verloren; Nicos, Gott hab ihn selig, ruhte auf dem Friedhof; Marios war nach Deutschland geflogen, um den Sommer bei
seinen Schwiegereltern zu verbringen; und Loukis war wie immer in seiner eigenen Welt versunken. Während Dhespina in dieser
ungemütlichen Stille auf Georgios’ Rückkehr wartete, spielte sie sogar mit dem Gedanken, den alten Televantos zu sich zu rufen.
Doch ihr hochbetagter Nachbar war seit kurzem bettlägerig, und Dhespina glaubte nicht, dass seine Tochter, die ihre eigenen
Kinder in Pissouri vorübergehend verlassen hatte, um ihn in seinen letzten Tagen zu umsorgen, ihre Einsamkeit als hinreichenden
Grund erachten würde, den Vater aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen. Dhespina würde nie verstehen, wie Loukis so ein einsames
Leben ertragen konnte. Obwohl sie ihn besser verstand als die meisten Menschen, gab es doch auch Aspekte seines Charakters,
die sie verwirrten und traurig machten. Hinter ihr öffnete sich die Tür. Zu ihrer großen Erleichterung trat ihr Mann mit einem
Lächeln im Gesicht ins Haus.
»Wie war es?«, fragte sie.
»Fürchterlich«, erklärte er. »Ich konnte kaum glauben, was ich sah. Über die ganze Kirchenmauer – die
Kirchenmauer
, Dhespina – haben sie irgendeinen Mist über Makarios geschmiert. Ich bin kein gottesfürchtiger Bibelnarr, aber wenn ichdie kleinen Mistkerle erwische, die dafür verantwortlich sind, dann drehe ich ihnen den Hals um, das sage ich dir.«
Auch Dhespina missbilligte diesen Akt von Vandalismus, jedoch erschien er ihr im Angesicht ihrer Sorge um die Gesundheit ihres
Mannes völlig unbedeutend.
»Was hat der Arzt gesagt, Georgios?«
Ihr Mann trat seine besten Schuhe von sich, zog seine Socken aus und rollte sie zu einem Ball zusammen.
»Nicht viel«, gab er zu.
»Georgios!«, rief Dhespina drohend. Ihr Mann lächelte sie sanft an. Barfuß lief er auf sie zu, ergriff ihre Hände und führte
sie an seine Brust, als wollten sie einen langsamen Tanz beginnen.
»Meine süße, wunderschöne Dhespo, alles wird gut werden.«
»Oh, Gott sei Dank«, murmelte sie.
»Zumindest hofft der Arzt das, er hat nämlich keinen blassen Schimmer«, fuhr er unbekümmert fort. »Er gibt den schwarzen Peter
nach Lefkosia weiter, und dort habe ich im Juli einen Termin bei einem Herzspezialisten.«
Bei diesen Worten brach Dhespina in Tränen aus.
Mehmet schaute zu, wie Loukis Orangen auf den Traktor lud. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er noch die Kraft besessen, ihm
zu helfen. Wäre sie noch am Leben, hätte Pembe sie mit gekühltem Melonensaft versorgt, der ihren Durst stillen und ihre Nieren
schützen sollte, und der Traktor wäre ein Esel namens Aphrodite gewesen. Es war traurig, zu sehen, wie schnell die Jahre verflogen
waren, und wenn er sich umsah, konnte Mehmet kaum glauben, wie wenig er nach all der Zeit vorzuweisen hatte. Je länger man
lebte, desto mehr nahm der Tod einem offenbar fort.
Er sah Praxi über das Feld auf sie zukommen. Sie trug ihr Haar offen, und der Wind spielte mit den Spitzen der einzelnen Locken.
Loukis drehte sich um, als hätte er ihre Ankunft gespürt,und Mehmet schüttelte den Kopf. Manche Dinge änderten sich also nie. Er war dankbar für diesen kleinen Segen.
Nicht alle Dorfbewohner würden die Freundschaft der beiden so gutheißen, aber Mehmet konnte es sich gar nicht anders
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