Schattenturm
einzuheimsen.
Duke drückte sich das Foto von den Wüstenbussarden an die Brust und spähte ins Halbdunkel.
Anna schob Teller, Besteck und Kaffeebecher zur Seite, um auf dem Frühstückstisch Platz für einen Becher Ahornsirup zu schaffen. Joe schaute auf die Waffeln, den Sirup, den Saft, die Croissants, den Speck, die Wurst, den Kaffee und den Tee.
»Ist das alles?«, fragte er.
Anna lachte und wartete auf eine Reaktion Shauns, doch er rührte sich nicht. Sein Gesicht war verweint.
»Muss ich hier sitzen?«, fragte er. »Mir ist schlecht.«
»Wenn du möchtest, kannst du gehen«, sagte Anna und wollte ihm eine Hand unters Kinn legen. Doch Shaun wich ihr aus und stürmte aus dem Zimmer.
Anna und Joe warfen einander ratlose Blicke zu. Frank stand in der Tür und betrachtete lächelnd seine Frau. Nora enttäuschte ihn nie. Er wusste, dass sie immer sofort aufstand, sobald er das Haus verließ.
Sie hatte ihn nicht hereinkommen hören. In ihrem blauen Satinnachthemd saß sie in einer Sofaecke; ihre ausgestreckten Beine lagen auf dem Couchtisch. Mit einer Hand blätterte sie in einem Buch, die andere streckte sie nach einem Kaffeebecher aus. Sie stieß mit einem Finger gegen den Henkel, bekam den Becher aber noch zu fassen, bevor er umkippte.
Frank lachte so plötzlich auf, dass Nora zusammenzuckte.
»Du bist unmöglich«, sagte sie, stellte den Kaffeebecher auf den Tisch, schlug das Buch zu und drehte sich zu ihm um. »Und?«
»Noch immer kein Lebenszeichen von ihr.«
»Und Martha?«
»Ist völlig durcheinander. Ich fürchte, ich habe ihr einen zusätzlichen Schrecken eingejagt, als ich ihr ein paar Fragen stellen musste. Dabei habe ich sie noch gar nicht nach den wirklich wichtigen Dingen gefragt, die ihr richtig wehtun könnten.«
»Die arme Martha. Dabei hat sie Matts Tod noch gar nicht richtig überwunden. Vielleicht hat ihre Traurigkeit bei Katie Schuldgefühle hervorgerufen, weil das Mädchen so viel Freude am Leben hat. Vielleicht ist Katie deshalb verschwunden.«
»Könnte sein.«
»Nun, wir werden es bald erfahren«, meinte Nora. »Mädchen wie Katie bleiben nie lange von zu Hause fort. Sie würde den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Mutter vor Sorge verrückt wird. Bestimmt ist sie noch vor Mittag zurück.«
»Hoffentlich. Ich habe in den Krankenhäusern und auf mehreren Polizeiwachen angerufen, ohne dass es etwas gebracht hat.«
»Und was ist mit Shaun?«, fragte Nora.
»Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Er hat Katie diesmal nicht nach Hause gebracht, obwohl er es sonst immer getan hat. Wir haben die beiden ja oft genug gesehen.«
»Stimmt.«
»Und er hat seine Eltern nicht zu Martha begleitet.«
»Was hat er denn getan?«
»Zu Hause auf Katies Anruf gewartet, sagt Joe.«
»Seltsam«, sagte Nora. »Man sollte doch meinen, dass Shaun bei den anderen sein möchte. Denn wenn Katie ihn nicht erreicht, würde sie doch ihre Mutter anrufen, damit Martha weiß, dass alles in Ordnung ist.«
»Ich habe mit dem Jungen gesprochen, nachdem ich bei Martha war«, sagte Frank. »Er scheint tatsächlich keine Ahnung zu haben, wo Katie sein könnte.«
Nora musterte Frank.
»Du wirkst besorgt.«
»Bin ich auch.« Er sah müde und betrübt aus. »Tja, ich muss noch mal los. Ich muss mit Katies Freundinnen sprechen und mich am Hafen und auf den Straßen in Richtung Stadt umsehen. Vielleicht entdecke ich irgendwas. Wenn nicht, rufe ich in Waterford an und melde den Kollegen dort den Fall.«
Shaun ließ Shore’s Rock hinter sich und folgte etwa zwanzig Minuten der Straße, die aus dem Dorf herausführte. Schließlich kletterte er über das Eisentor von Millers Obstplantage und sprang auf den Pfad hinunter. John Miller schaufelte in einer Ecke des Grundstücks Blätter auf einen brennenden Haufen. Er war so weit entfernt, dass er Shaun nicht bemerkte, als dieser an der Mauer entlang zur gegenüberliegenden Seite lief, wo Ali auf ihn wartete.
»Hi«, sagte sie.
»Hi. Alles klar?«
Ali drehte sich einen Joint. »Was meinst du, wohin ist sie gegangen?«, fragte sie. Als sie Shaun den Joint anbot, schüttelte er den Kopf.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Ich bin den ganzen Morgen herumgelaufen.«
»Und ich war in der Stadt und hab sie in den Geschäften gesucht. Blöd von mir.«
»Es ist nicht ihre Art …«
»Ich weiß.«
»Das war meine letzte Hoffnung.«
»Meine auch.«
Nora und Frank Deegan schauten sich an, als das Telefon klingelte. Frank saß am Küchentisch und wollte gerade ein
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