Schattenwanderer
Gegebenheiten grenzte nur das Hafenviertel nicht an diesen Platz. Er war gigantisch, von der Größe durchaus mit dem Königspalast vergleichbar. Die Priester hatten sich ein hübsches Stückchen der Stadt gesichert. Der Urgroßvater des heutigen Königs hatte ihnen diese Unverfrorenheit jedoch zugebilligt, sich im Gegenzug freilich ihrer ewigen Unterstützung versichert. Damit konnten die Stalkonen stets auf die Priester zählen – und folglich auch auf die Götter Sialas.
Dieser geheime Vertrag bescherte allen ein friedliches Miteinander. Die Priester waren’s zufrieden, dass sich die Könige nicht in ihre Angelegenheiten einmischten und den Göttern jährlich reiche Opfer darbrachten, die Könige wussten, dass, sollte das Volk plötzlich danach fragen, wozu es überhaupt einen König brauchte, die Götter umgehend Zeichen senden würden, welche die göttliche Auserwähltheit der Könige bewiesen. Daraufhin würde das liebe gute Volk sofort verstummen. Bis zum nächsten Aufstand.
Der Tempel der Götter nahm den ganzen Platz ein, er war das größte Gotteshaus in den gesamten Nordlanden, in ihm wurden alle zwölf Götter Sialas verehrt. Man musste also nicht durch die halbe Stadt hetzen und das fragliche Gotteshaus aufsuchen, in dem der eine oder andere Gott vorübergehend seinen Wohnsitz hatte, sondern brauchte sich bloß zum Tempel zu begeben, durch das Haupttor zu treten, das Tag und Nacht geöffnet war, und den Gott auszuwählen, an den man seine Gebete richten wollte.
»Götter!«, schnaubte ich in frevlerischem Ton.
Die Götter beehrten die Welt, die sie selbst geschaffen hatten, nicht allzu häufig mit ihrer Anwesenheit. Früher, als die Welt noch jung und unschuldig gewesen war, zu Anbeginn der Geschichte, als nach den Elfen, Orks, Ogern, Gnomen und Zwergen die Menschen in Siala auftauchten, waren die Götter noch häufig unterwegs gewesen. Sie hatten Wunder gewirkt, Sünder bestraft, die Gerechten beschenkt. Irgendwann hatten sie die irdischen Angelegenheiten jedoch satt und beschäftigten sich nur noch mit ihren eigenen, den Menschen unverständlichen und ach so wichtigen Belangen. Vielleicht waren sie ja wirklich wichtig, vielleicht glaubte ich einfach nicht genug an die Macht der Götter. Sicher, ich glaube an Sagoth und seine Kraft, aber ich halte ihn nicht für einen Gott. Es heißt, er sei einst ein erfolgreicher Dieb gewesen. Über seine Taten sind selbst heute noch zahllose Geschichten in Umlauf. Die gerissenen Priester hatten sich jedoch die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihn in den Rang eines Gottes zu erheben, auf dass noch mehr Gold in die Tempelkasse floss. Denn Diebe sind ein abergläubisches Völkchen, es liegt ihnen im Blut, sich einen Schutzheiligen zu suchen.
Aber genug davon! Ob Götter existieren oder nicht, das ist eine philosophische Frage, die man mit Bruder For bei dem einen oder anderen Krug Wein in sorgenfreien Stunden erörtern kann. Falls diese Stunden jemals wieder eintreten. Ich persönlich hege da meine Zweifel, allzu sehr fürchte ich einen Krieg gegen den Unaussprechlichen. Meiner Ansicht nach treibt die Welt so geschwind wie ein königlicher Bote in den Schlund eines hungrigen Ogers.
»Kämpfst du mit dem Dunkel in dir?«, fragte mich einer der beiden Priester, die neben dem Haupttor Posten standen.
»Ich vernichte das Dunkel«, antwortete ich mit der rituellen Formel.
»Dann tritt ein und wende dich an die Götter!«, forderte mich der andere Priester pathetisch auf.
Sogleich nahm ich mir diesen genialen Rat zu Herzen. Wie immer stand die Tempelwache – Soldaten der Stadtwache, die man zur Strafe hierher abkommandiert hatte, die Orange und Weiß tragen mussten und nur mit einer Partisane bewaffnet waren – nicht neben dem Tor. Angeblich ging das auf ein Verbot der Priester zurück. Und das war im Grunde auch richtig so, denn die verbrecherischen Fratzen der Ordnungshüter könnten durchaus einen Gutteil der Besucher abschrecken – und damit den Tempel um einen beträchtlichen Teil seiner Einnahmen bringen.
Innerhalb der Anlage zogen die Soldaten gleich gescholtenen Kindern zu zweit oder zu viert ihre Runden um die Blumenbeete, die plätschernden Springbrunnen oder die Statuen der Götter und dünsteten in ihren Kürassen und Helmen nach und nach den letzten Rest Verstand aus. Natürlich waren sie alle so wütend wie Orks, die während eines Kriegszugs plötzlich Zahnschmerzen bekommen, schließlich büßten sie hier dafür, Bestechungsgelder angenommen
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