Schattenwandler 05. Noah
Euer Gast ist zurückgekommen«, war die zögerliche Antwort.
Noah blieb ruckartig stehen.
»Führ sie in einen der Privatsalons, John. Ich komme sofort.«
Warum war sie zurückgekommen?
Doch im Grunde war es ihm egal. Sein ganzer Körper wurde von einem Hochgefühl durchströmt und von dem Bedürfnis, sie anzuschauen. Sie war nur einen halben Tag fort, doch es kam ihm vor wie ein halbes Jahr.
Noah holte seine Stiefel.
Kestra ging ungeduldig in dem Raum auf und ab. Sie hatte sich für den direkten Weg entschieden und wollte ihren Gastgeber fragen, ob er ihr das Geld weggenommen hatte, bevor er sie nach England verschleppt hatte. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass er überhaupt wusste, was in ihrer Handtasche gewesen war. Vielleicht hatte er die Tasche gar nicht erst aufgehoben. Aber er hatte erwähnt, dass sie keinen Ausweis hatte. Sie hatte sich entschieden, ihren Stolz zu schlucken und nachzufragen. Es sah nicht so aus, als müsste er ihr Geld stehlen, wenn man bedachte, wie groß und wie prachtvoll allein sein Besitz war, aber für manche bedeutete Geld eben Geld, egal, wie viel sie hatten.
Auf diese Weise konnte sie eine persönliche Einschätzung vornehmen. Wenn sie den Eindruck hätte, dass er log, würde sie später wiederkommen und heimlich versuchen, es herauszufinden. Es war nicht gerade eine optimale Lösung, wo so viele Leute im Schloss waren, und die Tatsache, dass sie den Bau bis auf das, was sie bereits gesehen hatte, nicht kannte. Keine Unterstützung, keine von James’ technischen Spielereien, die ihr helfen könnte, sich zurechtzufinden. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass sie erfolgreich in fremden Häusern herumschlich. Offen gesagt, wenn man bedachte, wie unruhig sie in jüngster Zeit war, wäre es vielleicht sogar ganz lustig, es zu versuchen.
Kestra drehte sich jäh um, als sich die Tür hinter ihr öffnete.
Sie hatte eine Menge Menschen und Orte in ihrem Leben kennengelernt, daher verstand sie nicht, weshalb sie ihn so besonders fand, als er die Tür schloss und auf sie zukam. Seine Kleidung war schlicht, sauber und frisch und sehr eng anliegend. Er sah aus, als wollte er ausreiten. Das Einzige, was an seinem Aufzug fehlte, waren die Reitgerte und eine Jacke. Er trug wieder die schwarz-braunen Stiefel, wie Jäger sie tragen, was ihr verriet, dass er ein hervorragender Reiter sein musste und wahrscheinlich nur zum Vergnügen auf die Jagd ging. Es war ein weit verbreiteter englischer Zeitvertreib, obwohl er selbst eindeutig nicht aus England stammte.
Es kam nicht oft vor, dass ein Mann größer war als sie. Er musste gut einen Meter neunzig groß sein, denn er gab ihr das Gefühl, als wäre sie kleiner als sonst.
Wenn sie es recht besah, musste sie zugeben, dass sie das nicht gerade in Angst versetzte und in die Flucht schlug. Vielmehr zog Noah sie magnetisch an.
Diese Tage waren irgendwie intensiver als sonst, ihr ganzes Wesen vibrierte vor Anziehungskraft. Sie richtete ihren Fokus nach innen, als er näher kam, versuchte bewusst, gleichmäßig zu atmen, und gab sich äußerst geschäftsmäßig.
»Es tut mir leid, dass ich dich störe«, sagte sie und hoffte, dass der kühle Empfang ihn dazu bringen würde, dort stehen zu bleiben, wo er war.
Doch das tat er nicht.
»Deine Gesellschaft ist mir stets willkommen, Kestra. Obwohl ich gestehen muss, dass ich überrascht bin, dich so schnell wiederzusehen. Ich hatte den Eindruck, dass du am liebsten so weit wie möglich von hier weg sein wolltest.«
»Es geht um eine geschäftliche Sache, dich ich gern mit dir besprechen würde.«
Überrascht und neugierig hob er eine seiner dunklen Brauen.
»Ich habe genug Geschäftspartner, Kestra. Ich bin nicht daran interessiert, neue zu suchen.«
»Das Letzte, was ich will, ist eine Partnerschaft mit dir«, gab sie zurück. »Meine Handtasche lag in der Suite auf dem Boden. Hast du sie zufällig mitgenommen?«
Ist das alles?
Noah konnte nicht gleich antworten. Er war zu sehr damit beschäftigt, einen Wutanfall zu unterdrücken. Er biss die Zähne zusammen, während er versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Normalerweise hatte er die berüchtigte Leidenschaftlichkeit eines Feuerdämons viel besser im Griff, doch seine Enttäuschung über den Grund für ihre Rückkehr reizte ihn über alle Maßen. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass es so einfach sein würde. Er war ein Monarch und als solcher daran gewöhnt, dass die Dinge ihre Zeit brauchten und durch geschicktes
Weitere Kostenlose Bücher