Schattenwandler 05. Noah
Vorgehen zustande kamen. Doch es sah so aus, als ob rationale Überlegungen nicht von Dauer wären, wenn Kestra ins Spiel kam.
Allein schon zu sehen, dass sie sich in seinem Schloss befand, traf ihn ganz unvermittelt, so als wäre sie nicht schon einmal hier gewesen. Sie trug ihr langes glänzendes Haar jetzt offen. Sie hatte das Designerkleid und die Perlen, die sie trug, als er sie gefunden hatte, eingetauscht gegen ein schlichtes blaugrünes Minikleid. Es war ein kurzärmeliges Schlauchkleid aus Elastan, das ihr bis halb über die Oberschenkel reichte und das sich an ihren Körper schmiegte wie eine zweite Haut. Sie schien fast nur aus Beinen zu bestehen, die in extrem hohen Stöckelschuhen steckten.
Kestras Kehle war wie zugeschnürt, und ihr Mund wurde trocken, als sie die bedrohliche graue Wolke in seinen Jadeaugen bemerkte. Seinem Ausdruck oder der entspannten Haltung seines Körpers war nichts anzumerken, als er vor ihr stand, doch sie war überzeugt, dass es in ihm nur so brodelte. Wut? Feindseligkeit? Sie war sich nicht sicher, doch es war da.
»Nein«, antwortete er schließlich, und seine Stimme klang eher leblos als neutral. »Ich habe mir damals mehr Sorgen um dich gemacht.«
»Verdammt.«
Sie glaubte ihm. Sie hatte es sich außerdem schon gedacht. Das bedeutete, dass die Polizei ihr Geld hatte, also Jims Geld. Ganz zu schweigen von der Waffe und ihren Fingerabdrücken. Sie würde bereits über Interpol und das FBI gesucht. Das würde es etwas schwieriger machen, England zu verlassen.
»Danke. Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe.«
»Ganz und gar nicht«, murmelte er und verengte nachdenklich die Augen, als sie an ihm vorbeigehen wollte. »Ich nehme an, du willst mir nicht sagen, wie du in die Situation geraten bist, in der ich dich angetroffen habe, oder?«
Kestra drehte sich zu ihm um und blickte ihn an.
»Und ich nehme an, du willst mir nicht sagen, wie du dorthin gekommen bist«, entgegnete sie.
»Wie gesagt, ich habe dich gesucht.«
»Jetzt klingst du wie ein Polizist. Oder wie ein Privatdetektiv.« Sie verengte die kristallklaren blauen Augen, als sie die Anschuldigung vorbrachte.
»Warum? Hast du öfter Probleme mit Polizisten und mit Detektiven?«
»Genau. Als ob ich dir das erzählen würde.«
»Ich hoffe es«, sagte er schlicht. »Ich bin neugierig auf die Frau, mit der ich eine Beziehung habe.«
»Eine Beziehung?« Sie stieß ein kurzes, ungläubiges Lachen aus. »Wir haben keine Beziehung und werden auch nie eine haben. Was in meinem Leben passiert, geht nur mich etwas an, nicht dich und auch niemanden sonst. Wenn ich zu dieser Tür hinaus bin, werde ich alles tun, damit ich dir nie wieder unter die Augen treten muss.«
»Ich fürchte, das ist unmöglich.«
Sein Tonfall war eher nüchtern als geheimnisvoll, doch aus irgendeinem Grund klang es für sie viel bedrohlicher. Er wirkte so sicher. Selbstbewusst, das schon, aber ohne die Arroganz, die sie ihm zuvor zugeschrieben hatte. Kestra erkannte, dass sie mit dieser Einschätzung falschgelegen hatte. Arroganz beinhaltete ein gewisses Maß an Gefühllosigkeit und Selbstbezogenheit. Was sie nun von ihm wahrnahm, hatte nichts mit diesen Wesenszügen zu tun.
Sie hätte auf diese unverschämte Bemerkung empört reagieren müssen, doch ganz unvermittelt wurde sie von Panik ergriffen, wie sie es sonst überhaupt nicht kannte. Ihr Herz pochte viel schneller als in dem Augenblick, als sie auf den Rohrleitungen gelegen hatte und ein Wachmann unter ihr vorbeigegangen war. Dass jemand auf sie schoss, war weit weniger nervenaufreibend, als es dieser Mann zu sein schien. Zumindest wusste sie bei jemandem, der einen Schuss auf sie abgab, worauf er es abgesehen hatte.
»Du hast …« Sie suchte nach Worten, während seine Augen die ganze Zeit auf ihr ruhten. »Du bedeutest mir nichts«, flüsterte sie und biss dann die Zähne zusammen, weil ihre leise Stimme verriet, dass sie nicht davon überzeugt war.
»Ich bedeute alles für dich«, erwiderte er, und seine Stimme war genauso leise, wenn an seiner Überzeugung auch nicht zu zweifeln war.
Er trat noch einen Schritt näher, das leichte Quietschen seiner Lederstiefel klang schrecklich laut und übertönte irgendwie ihre pochenden Herzen und ihren schnellen Atem. Noah streckte die Hand aus, und allein der Anblick seiner Finger und seiner breiten Handfläche brachten sie dazu, zu reagieren. Ihr ganzer Körper holte zu einem Schlag aus, um ihn abzuwehren.
Mit verblüffendem Instinkt
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