Schatz, schmeckts dir nicht
Gedanken aus, ihre eigene Entführung zu inszenieren. Doch die Gefahr, dass die Polizei ihren Schwindel aufdeckte, war dabei zu groß. Außerdem noch größer die damit verbundene Blamage. Sollte sie sich mit dem lasergeschliffenen Sushimesser einen Finger abschneiden oder wenigstens fast abschneiden? Sie wäre sogar bereit gewesen, dieses Opfer zu bringen, aber wäre das ein Grund für Jan, seine Reiseteilnahme abzusagen? Vielleicht sollte sie einen Wirbelsäulenschaden simulieren, der sie bewegungsunfähig machte. Doch dann käme womöglich ihre Mutter, um die arme, kranke Tochter zu unterstützen – nein, das Risiko war auch zu groß.
Verzweifelt wälzte sie sich in ihrem Bett und fand keinen Schlaf, bis ihr plötzlich das kleine Büchlein mit dem verheißungsvollen Titel einfiel. Sobald sie beschlossen hatte, es in den nächsten Tagen ausführlicher zu studieren, fielen ihr endlich die müden Augen zu. Doch sie schlief unruhig und träumte wirr, und als der Wecker klingelte, fühlte sie sich wie gerädert.
Die Erinnerung an jenen Abend und die Wut und Enttäuschung, die er hervorgerufen hatte, ließen Helene sich jetzt noch total verkrampfen. Die Fäuste in den Manteltaschen geballt, die Schultern hochgezogen, war sie abwesend den ihr wohlbekannten Weg durch den Botanischen Garten vom Tropenhaus zur Abteilung ›Kräuter zum Heilen und Würzen‹ gestapft. Als sie die kleinen Emailschildchen wahrnahm und an ihr Vorhaben dachte, entspannte sich ihre Haltung.
Neugierig näherte sie sich einem kleinen Areal, das sie früher nie beachtet hatte. Über zwei gekreuzten Knochen grinste ein Totenschädel zu ihr herab. Einige der hier wachsenden Pflanzen, warnte das große Schild, wiesen neben ihren bekannten heilenden Eigenschaften auch eine absolut tödliche Wirkung auf. Deshalb wurde von einer Selbstmedikation dringend abgeraten. Das Berühren oder gar Sammeln war im Park ohnehin, und hier ganz besonders, unter Androhung empfindlicher Geldstrafen strengstens verboten.
Freudig registrierte Helene, dass die meisten der in ihrem Büchlein erwähnten Kräuter hier versammelt waren.
Sie beglückwünschte sich dafür, den kleinen, unscheinbaren Buchladen schließlich doch betreten zu haben. Allerdings hatte dieser merkwürdige, alte Mann sie ja regelrecht hineinzwingen müssen. Wenn sie es genau überlegte, schien eine höhere Macht ihre Schritte gelenkt zu haben. Eigentlich mochte sie daran ja nicht so recht glauben. Doch wie sonst war es zu erklären, dass sich zur Lösung ihres Problems plötzlich die Möglichkeit aufzeigte, die perfekt ihren Fähigkeiten, um nicht zu sagen ihrer besonderen Begabung entsprach, nämlich der Kunst, die Menschen mit dem Kochlöffel zu verzaubern und zu beherrschen?
In gut einer Woche war Ostern. Diane würde sich bestimmt über eine Einladung zu einem Essen im Familienkreis freuen, hatte sie doch schon selbst geäußert, dass sie die ihr fehlenden familiären Bindungen vermisste. Auch Jan würde sich freuen, seine hochgeschätzte Mitarbeiterin an der heimischen Tafel bewirten zu können. Und Helene würde sich ganz besonders freuen, all ihr Können aufzubieten, um dem Gast ein einmaliges Erlebnis zu bereiten.
Sie arbeitete gewissenhaft und schnell, und immer auf der Hut vor anderen Parkbesuchern, und ganz besonders den uniformierten Hütern der Anlage. Als sie schließlich ihre Handtasche endgültig schloss, barg diese eine umfassende Auswahl vielversprechender Schätze. Zufrieden schlenderte Helene in Richtung Ausgang, nickte freundlich dem zwillingsgleich gekleideten Rentnerpaar zu, und freute sich über die Frühlingsahnung, die den Park jetzt erfüllte: Der Himmel wölbte sich in sanftem Blau, die Tropfen des letzten Regenschauers glitzerten auf dem jungen Grün im Sonnenschein, und die Vögel zwitscherten aus voller Kehle. Tief atmete sie den Geruch der feuchten Erde ein und machte sich herrlich erfrischt auf den Weg nach Hause.
Endlich war es so weit! Der Tag der Erlösung war gekommen. Durch die geöffnete Terrassentür drang laut und mächtig der Klang der nahen Kirchenglocken, die gute Christenmenschen zum Zehnuhrgottesdienst am Ostersonntag rufen sollten. Nach Helene allerdings riefen sie vergeblich, die war ganz mit der Vorbereitung des österlichen Familienfrühstücks beschäftigt, inklusive des Versteckens kleiner, süßer Überraschungen für Janina, Peer und Jan in der Wohnung und auf der Terrasse. Natürlich würden die Kinder ob der ihrer Meinung nach
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