Schatz, schmeckts dir nicht
Erlebnis der ersten Sonnenstrahlen auf der Haut im Frühling durchaus vergleichbar.
Auch Gäste zu empfangen hatte in dieser Jahreszeit seinen besonderen Reiz. Sie brachten von draußen einen Schwall kühler, frischer Luft mit, die einem bei der Begrüßung entgegenschlug – ein Geruchsgemisch aus Ofenheizung und feuchter Wolle umgab sie zuweilen –, und die Vorfreude, nun ins gemütliche Warme zu kommen, war deutlich zu spüren. Da man aufgrund der niedrigen Außentemperaturen in diesen Monaten seltener dazu neigte, die Fenster zu öffnen, konnte sich bei festlichen Zusammenkünften ein für Helene unvergleichlich angenehmes Duftensemble entfalten – sofern nicht jemand über einen strengen Körpergeruch oder aber ein zu aufdringliches Parfum verfügte. So mischten sich auch bei der heutigen Vernissage in der mittlerweile von den vielen Menschen stallwarmen Galerie die pikant-würzigen Essensgerüche des Büffets mit sanften Parfumwölkchen und dem säuerlich-fruchtigen Dunst der alkoholhaltigen Getränke. Etwas Zigarettenrauch, der trotz eines entsprechenden Verbots von einigen unverbesserlichen Nikotinsüchtigen schamhaft im Bereich der Eingangstür ausgestoßen wurde, gehörte zu der Duftmischung »Fest« auch mit dazu. Und zur Vervollkommnung durfte ganz zart ein Hauch aus diversen Blumenarrangements nicht fehlen. Helene sog testend eine Nase voll ein – ja, so musste das sein. Das war großes Fest pur.
Sie stellte sich abwartend zu Dieter am leise zischenden Samowar – neben Krimsekt wurden russischer Tee, Kwass und Wodka als Getränk angeboten – um das Eröffnungspublikum mal ein bisschen unter die Lupe zu nehmen. Mit keinem machte das so viel Spaß wie mit Dieter. Seine distinguierte Art hinderte ihn, selbst das auszusprechen, was Helene dank seiner Stichworte an kleinen Gemeinheiten und gnadenlosen Vorurteilen mit Wonne von sich gab und die oft ernster gemeint waren, als er ahnte. Jan war für derlei Späße ab einem gewissen Punkt einfach zu moralisch und versuchte, Gerechtigkeit ins Spiel zu bringen, was einem oft den Spaß verdarb. Da er heute Abend, wenn überhaupt, dann erst sehr spät zu der Gesellschaft stoßen würde, weil er sogar an diesem Sonnabend an seinem Schreibtisch klebte, konnte Helene ihre kleinen Boshaftigkeiten mal wieder unzensiert herauslassen, und Dieter und sie amüsierten sich königlich.
»Nun lass mich doch bitte noch ein wenig profitieren von deinem Insiderwissen, meine Liebe! Wer bitte ist zum Beispiel der Typ da rechts in der Ecke, mit diesen aparten roten Stiefelchen?«
»Apart? Ach, du meinst diese geschmacklosen Plateauteile von unserem Porsche fahrenden Dipl. Psych.? Jeder hat so sein Päckchen zu tragen. Seins sind die 160 Zentimeter, über die er nie hinauskam, und wer weiß, welche Minderwertigkeiten ihn sonst noch plagen. Seinen letzten Urlaub hat er in Indien verbracht, vier Wochen Meditation mit Yoga und Erleuchtung zum Pauschalpreis, was weiß ich. Jedenfalls heißt er jetzt nicht mehr einfach Adalbert Weiß, nein, ich durfte die Einladung an Adalbert Devapath Weiß adressieren. Und schau dir dieses Mädel an seiner Seite an. Hat genau die richtige Größe, um ihr völlig unauffällig ins Dekolleté zu gaffen, wenn er geradeaus guckt. Die ist höchstens 20 – Kinderschänder! Und so was darf der Menschheit als Therapeut Schaden zufügen!«
»Magst du den Dipl. Psych. etwa nicht?«
Helene verzog das Gesicht. »Ich würde nicht behaupten, dass ich ihn besonders sympathisch finde.«
Mit dem Kopf wies Dieter in eine Nische am Fenster. »Da steht noch so eine spezielle Freundin von dir.«
Helene machte einen langen Hals. »Ach so, du meinst die Bergfeld. Die fühlt sich mir inzwischen zu ewigem Dank verpflichtet, und ihre Anbiederei geht mir ziemlich auf die Nerven. Du kannst dich vielleicht erinnern, nach der letzten Vernissage, da war sie voll wie ’ne Haubitze. Na ja, der barmherzige Samariter in mir hat dann dafür gesorgt, dass sie unversehrt mit einem Taxi nach Hause kam. Am nächsten Tag hat sie mich angerufen und mir ihre Lebensgeschichte erzählt. War mir aber alles eh schon klar, nachdem ich einmal was von ihr gelesen hatte. Hat ein paar ihrer Bettgeschichten veröffentlicht, so im Rahmen von endlich befreiter weiblicher Sexualität, als sie noch die verführerische Blondine war. Daraufhin hielt sie sich für eine Schriftstellerin. Jetzt hat sie keine Bettgeschichten mehr, bereut, nicht rechtzeitig monogam geworden zu sein, und mit der
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