Schatz, schmeckts dir nicht
zwar noch unheimlich fit, aber eben auch schon 69 und ohne wirkliche Lebensaufgabe. Da wurden Unwichtigkeiten zum Lebensinhalt. Im Grunde war sie ja nicht böse. Sie nervte nur hin und wieder. Es würde Helene sowieso nichts anderes übrig bleiben, als das Beste aus diesem weihnachtlichen Familienzirkus zu machen.
Jedenfalls hatte sie das Telefonat richtig wach gemacht, die Tabletten begannen auch wohltuend zu wirken, und nach ihrer Morgentoilette setzte sie sich mit einer Kanne zart duftenden Darjeelings, den sie mit einem Schuss Milch trank, an den Esstisch. Mit Blick auf die sich jagenden, grauen Wolkenfelder und die von dem eiskalten Nordwestwind gebeutelten Pflanzen auf der Dachterrasse, machte sich Helene an die Planung des Weihnachtsessens für Jans Büro. Als Erstes notierte sie auf einem der bereitgelegten DIN-A4-Schmierbögen, wer alles zu den Gästen zählte, und machte auch gleich einen Kurzentwurf für die Einladung. Im Grunde war diese ja überflüssig, denn alle sahen sich ohnehin vorher noch täglich im Büro, doch Helene fand, dass auf diese Weise etwas Besonderes aus der Feier wurde. Seit Jahren schon traditionsgemäß veranstalteten Jan und seine beiden Partner für das Büro ein Sommerfest und ein Weihnachtsessen, immer der Reihe nach, unter abwechselnder Regie einer von ihnen dreien. In der Gestaltung war es jedem selbst überlassen, ob er das Ganze im Restaurant, zuhause oder wo und wie auch immer stattfinden lassen wollte. Für Helene war es natürlich Ehrensache und Herausforderung, dieses Ereignis zu einem Forum ihrer Kochleidenschaft zu machen.
Sie schmökerte genüsslich in den Kochbüchern, die sie sich in einer Vorauswahl aus ihrer gut ausgestatteten Bibliothek bereitgelegt hatte, um Anregungen für das zu gestaltende Menü zu sammeln. Auch Gräfin Warthensteins kopiertes Rezeptbrevier hatte sie herausgesucht, denn im Grunde war sie bereits entschieden, die vom Schloss mitgebrachte Rehkeule als Hauptgang zu servieren. Sie wurde in ihren Überlegungen unterbrochen von Jan, der inzwischen ausgeschlafen hatte, ihr quasi zur Begrüßung das Haar durcheinanderwuschelte und belustigt fragte: »Eilt unsere Starköchin schon wieder zum nächsten kulinarischen Großereignis? Es gab doch gestern erst Standing Ovations. Bewundernswert dein Eifer!«
Bescheiden wiegelte Helene ab, unterbrach ihre Überlegungen für das Büroessen und bereitete mit routinierter Schnelligkeit ein leckeres Wochenendfrühstück für die ausnahmsweise einmal vollzählige und unter sich bleibende Familie. Jedenfalls war zu erwarten, dass die Kinder auch demnächst aus ihren Betten kriechen und an den gedeckten Tisch kommen würden. Sie begannen also erst einmal alleine zu frühstücken, und Helene erklärte Jan resigniert, dass ihre Mutter ihnen am Weihnachtsfest nun auch die Ehre geben würde, was er aber ganz gelassen, wie das seine Art war, hinnahm.
»Dann können die älteren Herrschaften ja, inklusive meiner Mutter, auch mal separat ganz nach ihrem Geschmack etwas unternehmen.«
»Du bist doch ein unverbesserlicher Optimist!«
Helene wurde angesichts von so viel Realitätsferne richtig sauer. »Das ist doch noch nie gut gegangen. Erinnere dich doch bitte! Die sind wie Feuer und Wasser!«
»Warte erst einmal ab. Es kann sich doch auch was geändert haben.«
Das war typisch Jan. Ruhig bleiben, abwarten, auf sich zukommen lassen, reagieren statt agieren. Einerseits bewunderte sie an ihm diese Haltung, es konnte sie aber auch ziemlich fuchsig machen. Und eines war ja klar: Dem zu erwartenden Familienclinch an Weihnachten stand sie allein gegenüber. Wenn es ihm zu bunt wurde, zog er sich an seinen Schreibtisch hinter den Computer zurück. Ihn tangierte das alles nicht. Das kapierte sogar seine sonst so unsensible Schwiegermutter und ließ ihn respektvoll in Ruhe. Da sie sich jetzt nur weiter aufregen würde, wechselte Helene lieber das Thema, um über ihre Pläne mit der Rehkeule zu informieren.
»Apropos Weihnachtsfeier für das Büro«, unterbrach sie Jan. »Habe ich dir schon erzählt, dass wir einen Neuzugang zum ersten Dezember haben werden?«
»Nein, hast du nicht«, sagte Helene erstaunt.
»Ach so. Na ja, du hast sie zumindest schon mal gesehen. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, als du mich im Oktober nach dem Kongress vom Flughafen abgeholt hast.«
Da war es wieder, dieses leise Unbehagen. Und ob sich Helene an die auffallende Gestalt erinnerte!
»Ja, doch. Dunkel. War das so eine kleine
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