Schatz, schmeckts dir nicht
Ausdruck. Auf jeden Fall fand Helene die Aussicht spannend, die heiligen Hallen der von Jan so Hochgeschätzten einmal persönlich in Augenschein nehmen zu können. Für sie stand inzwischen sowieso fest, dass sie Diane mehr Aufmerksamkeit würde widmen müssen. Die hatte sie sich verdient.
Und dann war Silvester. Mit der Post kam eine Karte von Hans. Interessiert betrachtete sie die grünen Hügel, die Zypressen, das steinerne Bauernhaus. Er grüßte aus seinem Arkadien, berichtete allerdings, dass es regnete und im Haus, bis auf die Küche, kalt und ungemütlich war. Es fehle ihm eben auch jemand zum Wärmen, innerlich wie äußerlich. Punkt. Punkt. Punkt. Das tat gut. Helene platzierte die Karte so in dem Stapel, dass Jan sie auch finden würde. Doch diskret wie er war, sah er ihren Namen in der Anschrift und legte sie gleich zur Seite. Sie musste ihn extra auffordern, die Zeilen zu lesen.
»Siehst du, so ein Haus in der Toscana macht auch nicht glücklicher«, war sein ganzer Kommentar. Jan war wie immer jenseits von Gut und Böse. Vielleicht sollte sie sich doch wieder einmal bei dem einsamen Hans melden.
Am Abend waren sie mit Susanne und Michael, Susannes Noch-Mann Dieter und dessen Lebensgefährten Bertram in einem Restaurant zur Silvesterfeier verabredet. Es lag am Savignyplatz, gar nicht weit von ihrer Wohnung, und schon seit ihrer Studienzeit waren sie zum Jahreswechsel traditionell bei Tonino gelandet. Früher manchmal erst nach Mitternacht, wenn sich auf den diversen privaten Feten Langeweile breitmachte, manchmal erst im Morgengrauen, nachdem sie sich auf irgendeinem gelungenen Fest die Füße wundgetanzt hatten. Seit einigen Jahren aber nahmen sie zur Freude Toninos auch an dem Silvestermenu teil, das er regelmäßig veranstaltete und zu dem nur von ihm geladene Gäste zugelassen waren.
Als sie Tonino kennen lernten, arbeitete er als Kellner in der mit Rauputz und Tropfkerzen dekorierten Pizzeria seines Onkels. Man saß auf langen Bänken an rohen Holztischen und mittags war es meist proppenvoll, da die Uni nicht weit weg war und der kluge Onkel am Mittag Studentenpizza und ein Getränk nach Wahl für einen Fünfer anbot. Die Studentenpizza war eine sehr einfache Kreation mit viel Teig, Tomaten und Käse, einer einsamen Scheibe Salami und einer ebensolchen Olive, zwischen die sich selten einmal eine winzige Sardelle verirrt hatte. Trotzdem schmeckte sie, in einem mit Holz befeuerten Pizzaofen gebacken, für damalige Verhältnisse wunderbar würzig, italienisch exotisch und immer noch tausendmal besser als der pappige Mensafraß, der einem mit großen Kellen lieblos auf die praktischen, viereckigen Teller mit den verschiedenen Abteilungen geklatscht wurde. Dazu ein Glas vom süffigen Lambrusco und die Welt war in Ordnung.
Tonino sorgte dafür, dass die »arme Studente«, wie er sie immer nannte, auch mal eine Tonno oder Quattro Stagioni auf ihren Tellern fanden, und schenkte schon mal die Gläser mit Lambrusco nach. Wenn sie sich überschwänglich bei ihm bedanken wollten, winkte er ab.
»In einige Jahre ihr seid Rechtsanwälte, Architekte, Ärzte – kann man immer gebrauchen gute Beziehungen, und dann habt ihr die dicke Geld und denkt an kleine Tonino und kommt zu speisen in meine teure Ristorante.«
Und so war es dann auch. Tonino hatte den Laden seines Onkels übernommen und ihn zum Edelitaliener umgemodelt. Kein Rauputz mehr, sondern lasierte Wände, der Fußboden aus verschiedenfarbigem Marmor, Lichtquellen im Boden verborgen und in Wandnischen untergebracht. Metall, Glas und Stein schufen ein Raumkunstwerk, in dem die weiß gedeckten Tische wie Ausstellungsstücke wirkten. Erst recht, wenn das nicht minder sorgfältig gestylte Publikum daran Platz nahm. Das Ristorante da Toni war eine der ersten Adressen unter den Italienern Berlins geworden.
Helene ging nicht besonders gerne in Restaurants essen. Jedenfalls nicht in Berlin und vor allen Dingen nicht in mit irgendwelchen Kochlöffeln oder Sternchen prämierte, die von einem Kritikerpapst gnädig zum Olymp der Berufsesser emporgehoben worden waren. Sie fragte sich immer, was wohl diese Restaurantkritiker im Leben verpasst hatten, ob an ihnen ein Meisterkoch oder ein Dichter verloren gegangen war, dass sie sich derart dafür revanchieren mussten.
Fast jedes Mal, wenn sie ihrer Neugierde nachgegeben und einen dieser viel gepriesenen Gourmet-Tempel betreten hatte, gab es einen Grund, sich zu ärgern. Oft war es das am Tisch wirkende
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