Schatz, schmeckts dir nicht
schaffen hatte. Schon der Anblick der hoch aufgetürmten, mit geschlagener Sahne bedeckten und mit Amarenakirschen verzierten Köstlichkeit war beeindruckend. Und erst ihr Geschmack! Helene genoss Löffel für Löffel und bedauerte die Menschen, deren Sinne für einen solchen Genuss nicht empfänglich waren. Welch unangenehmer Gedanke an unangenehme Leute …
Und dann war es so weit. Der alte Wecker, den die Kellner auf den Tresen gestellt hatten, rasselte zum Ende des alten Jahres, alle stürmten nach draußen, wo ein höllisches Feuerwerk losbrach und die Luft binnen Kurzem von dickem Pulverdampf geschwängert war. Ganz Berlin eine einzige Schwefelwolke. Jede und jeder küsste jeden und jede, und alle wünschten sich das wundervollste neue Jahr. Dieter und Bertram sahen dabei richtig glücklich aus. Susanne hatte inzwischen offiziell die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Michael noch auftauchen würde, und aus lauter Verzweiflung sehr schnell, sehr viel Wein, Grappa und schließlich Champagner getrunken. Sie flirtete jetzt heftig mit Tonino. Da ihr Alkohol nicht guttat, schon gar nicht in diesen Mengen, war klar, dass sie in spätestens einer Stunde den dicksten Hangover kriegen würde.
Auch Jan und Helene wünschten sich das Beste für das neue Jahr und gaben sich einen Kuss. In ihrer Zeit als kleines Mädchen war Silvester für Helene immer ein spannendes Warten auf das große Ereignis. Das neue Jahr, von dem die Erwachsenen, wie ihr schien, mit Ehrfurcht sprachen, kam ihr wie ein lebendiges Wesen vor, das über Glück und Erfolg, Frieden und Gesundheit entscheiden konnte. Es wartete vor der Tür, und erst wenn um Mitternacht das eigenartige Zauberwort Prostneujahr erklang, kam es herein.
So war das heute natürlich nicht mehr. Und trotzdem fühlte sie so ein komisches Kribbeln im Bauch, wenn das alte Jahr zu Ende ging und das neue begann. Die kommenden zwölf Monate, erschienen ihr wie eine Verheißung, eine neue Chance. Voller Energie und Zuversicht beschloss Helene, diese Chance zu nutzen – wozu auch immer. Sie fühlte sich stark und glücklich. Spontan legte sie ihre Arme ganz fest um einen erstaunt blickenden Jan, während am Himmel das nicht enden wollende Feuerwerk die eisige Neujahrsnacht über Berlin erhellte.
Die Interviews / Nr. 2
Die Schwiegermutter
Mein Gott, was soll ich dazu sagen? Sie müssen entschuldigen. Ich bin immer noch ganz durcheinander. Annemieke, die kam letzte Woche zu mir mit der Bildzeitung. Ich mochte das ja alles erst gar nicht glauben. Aber da war ihr Foto. Annemieke ist meine Nachbarin. Seit ein paar Jahren ist die auch Witwe. Wir singen zusammen im Kirchenchor, wissen Sie. Annemieke hat gesagt, ruf doch gleich bei Jan an, der muss das doch wissen, ob das stimmt! Und dann hab ich das gemacht. (Pause, schüttelt den Kopf)
Mein verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, der war ein guter Ehemann, ja das war er! Aber er war auch ’n büschen son Bollerkopp, wissen Sie. Und als unser Sohn damals den Hof nicht übernehmen wollte, da hat er dem Jungen nix mehr für sein Studium gegeben und unser Jan, der kann ja auch sehr stur sein. Der wollt dann auch nix mehr zu tun haben mit seinem Vater. Über ein Jahr lang ist der Junge nicht mehr zu uns hierher gekommen.
Und als er uns dann das erste Mal wieder besuchen kam, da hab ich mich so für gefreut. Aber da war ja schon alles zu spät. Er hätte eine Überraschung für uns, sagte er, und stand mit diesem Mädchen in der Tür, das er in der Großstadt kennen gelernt hatte. »Im nächsten Mai heiraten wir«, hat er dann gesagt. (schüttelt wieder den Kopf)
Bei uns hier gab es damals auch welche, die den Jan gern geheiratet hätten. Das kann ich Ihnen sagen! Die Tochter von Bauer Evers, die Tina zum Beispiel. Eine nette Deern, so ordentlich und freundlich. Und den Hof hat sie auch geerbt. Aber es musste ja diese Helene sein. Und wie ich schon sagte, er is ein Sturkopp! Aber wer weiß, womit die ihn in diesem Berlin verhext hat! Ich hab jedenfalls gleich gewusst, dass das nicht gut geht. Schon dass sie mich immer mit meinem Vornamen ansprach! Das gehört sich einfach nicht.
Und das, was da jetzt passiert ist … (kämpft mit den Tränen) Was glauben Sie, wie die Leute im Dorf jetzt von mir denken? Und reden! Die zeigen mit dem Finger auf mich! Schon die ganze Woche bin ich nicht in der Kirche gewesen. Ich wage mich ja gar nicht mehr aus dem Haus. Hätte der Junge doch nur auf mich gehört. (putzt sich die
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