Schatzfinder
ganzes Volk auf und bemerkt, dass es pleite ist. Dann wird lamentiert, protestiert und demonstriert. Die Schuldigen werden im Ausland oder in Brüssel gesucht und verflucht, und die ganze Szenerie wird immer unwürdiger. Der Prozess ist schleichend, das Ende ist hässlich. Aber das wissen wir ja mittlerweile.
Oder das Altern: Vergleichen Sie Ihr Spiegelbild von heute mit dem von morgen früh – bemerken Sie was? Also ich bemerke nichts. Aber der Vergleich mit Fotos von vor zwanzig Jahren ist erschreckend. Ich finde das Altern schlicht gemein und hinterrücks, eine perfide Untergrundbewegung. Ach ja, altern müssen wir auch, ein weiteres Muss, das ich bislang vergaß zu erwähnen.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten vom einen auf den anderen Tag 18 Kilo zugenommen.
Oder das leidige Körpergewicht: Jeden Tag nehmen wir den einen oder anderen Millimeter zu. Das eigentliche Problem mit dem Fettwerden ist doch: Wir wachen nicht etwa eines Tages auf und sind über Nacht ein dicker Mensch geworden. Stellen Sie sich vor, Sie hätten vom einen auf den anderen Tag 18 Kilo zugenommen. Der Schlag würde Sie treffen! Sie würden zusammenbrechen. Sie wären so schockiert, dass Sie sofort Ihr Leben ändern würden!
Aber wir schaffen es, 18 Kilo in 50-Gramm-Portionen zuzunehmen, wir verfetten schleichend und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Und dann fehlen uns jedes Erschrecken, jeder Schock und jeder Zusammenbruch, die wir bräuchten, um die Energie aufzubringen, unseren Lebenswandel grundlegend zu ändern, von Essen über Bewegung bis zum Schlafen. Wir wollen nicht fett sein, aber wir sind es langsam geworden, und jetzt bleibt uns nur ein Schulterzucken. Die Hose spannt, also kaufen wir die nächste eine Nummer größer.
Wir verändern uns schleichend in unserem Unglücks- und Selbsttäuschungs- und Anpassungs-ja-ja-ist-schon-okay-System zum Negativen hin. Und finden uns damit ab.
Viel besser wäre es, wir würden einmal unter dem ganzen riesigen Elend, das wir in erträglichen Dosen aufgesammelt haben, beinahe ersticken, vor Frust einknicken, aufgeben, total – sowohl körperlich als auch seelisch – zusammenbrechen. Das wäre furchtbar – und doch könnten wir an jenem Tag Hurra rufen! Denn endlich könnten wir unser Leben ändern, weil Gott sei Dank endlich das Leiden groß genug ist.
Der Dickens-Prozess
Schöner wäre es natürlich, es müsste gar nicht erst zum echten Zusammenbruch kommen. Ein eingebildeter Zusammenbruch könnte doch vielleicht genügen, so wie bei dem Geizhals Ebenezer Scrooge aus der Erzählung
A Christmas Carol
von Charles Dickens von 1843.
Scrooge ist im Laufe der Jahre ein Widerling geworden, ein verbitterter, alter, eiskalter, geldgieriger Menschenfeind. Den Weihnachtsabend verbringt er allein zu Hause, doch in dem besonderen Jahr der Erzählung erscheinen ihm nacheinander drei Geister, die ihn mit in die Stadt nehmen und einige Szenen mit seinen Mitmenschen erleben lassen. Der erste Geist führt ihn in die Vergangenheit, der zweite in die Gegenwart und der dritte in die Zukunft. Scrooge beginnt zu begreifen, wie sein Verhalten auf die Menschen wirkt, und bekommt insbesondere einen Blick in die Zukunft nach seinem eigenen Tod serviert, bei dem das ganze himmelschreiende Elend sichtbar wird, das sein Geiz und seine Gefühlskälte verursachen. Scrooge erfährt, wie unbeliebt er ist und wie erleichtert die Menschen wären, wenn er stürbe.
Aber das Verblüffende ist, dass nach dem Ausflug in die beklagenswerte eigene Zukunft tatsächlich ein enormes Energiereservoir bereitsteht.
Auf einen Schlag die Wahrheit über sich selbst zu erkennen ist zu viel für Ebenezer Scrooge. Er bricht zusammen. Und ist danach wie verwandelt. Er schafft es anschließend, zum ersten Mal seit Jahren zu lachen, mit einem Kind zu sprechen, einer Familie ein Geschenk zu machen, sich zu entschuldigen, etwas zu spenden, eine Einladung anzunehmen, Weihnachten zu feiern und eine Gehaltserhöhung auszusprechen. Und plötzlich ist er ein glücklicher Mensch. So einen künstlich herbeigeführten Zusammenbruch nach dem Dickens-Muster praktiziert auch der berühmte Massen-Coach Tony Robbins in den USA. Ich war einmal dabei. Er schafft es, in einer großen Halle über 2 000 Leute bis zum Nervenzusammenbruch zu führen. Es ist ein unglaubliches kollektives Geschluchze, Geflenne, Gejammer und Geklage, wenn die Leute dazu gebracht werden, sich ihr eigenes Elend von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft
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