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Schatzfinder

Schatzfinder

Titel: Schatzfinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherer
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einer Sauerstoffunterversorgung des Organismus führt.
    Der Arzt sah die Sache ziemlich ernst und sagte mir, dass ich eine Luftveränderung bräuchte: Ich solle nach Nordfrankreich ziehen, dann würde er mir noch vier Jahre geben. Ansonsten wäre ich noch früher tot.
    Zuerst begriff ich nicht, was er meinte, aber als ich zu Hause war, brach ich zusammen. Eigentlich hatte ich mir ein neues Fahrrad kaufen wollen, aber nun fand ich, dass es sich gar nicht mehr lohnte. Ich fand mich mit meinem Tod ab und resignierte. Ich gab auf. Ich kapitulierte.
    Irgendwann hatte ich dann die Nase voll von meinem Elend und sagte mir: Hermann, wenn du nur noch zweieinhalb Jahrehast, dann nimm doch wenigstens die noch ordentlich mit! Ich beschloss, nichts mehr zu tun, was ich nicht tun will, und mir von niemandem mehr diktieren zu lassen, was ich zu tun und zu lassen hatte.
    Damals begann ich, wirklich und eigentlich selbstbestimmt zu leben. Nach Zusammenbruch und Aufbruch kam dann auch noch der Durchbruch: Der Arzt hatte sich geirrt. Ein anderer Mediziner konnte seine Diagnose nicht bestätigen, von einem Lungenemphysem konnte nicht die Rede sein. Vielmehr war ich … gesund!
    Seitdem nehme ich nichts von dem, was andere sagen, mehr so ernst wie zuvor – und dafür nehme ich das Leben ernster als zuvor. Ich würde heute nicht da stehen, wo ich stehe, wenn mein Arzt nicht ein solcher Idiot gewesen wäre, mich unschuldig zum Tode zu verurteilen. Herzlichen Dank!
    Doch auch da ist bemerkenswert, wie schleichend sich solche Vorsätze und Lebensweisen in den Ursprungszustand ändern und mit welcher Achtsamkeit man an seinem Vorhaben festhalten muss, damit es nicht verloren geht.
    Es ist bemerkenswert, wie schleichend sich solche Vorsätze und Lebensweisen in den Ursprungszustand ändern und mit welcher Achtsamkeit man an seinem Vorhaben festhalten muss, damit es nicht verloren geht.
Wahrer Mut
    Es gibt also den künstlichen Zusammenbruch und den echten Zusammenbruch, beide können zum Durchbruch führen, allerdings ohne Garantie. Eine andere Form von Durchbruch ist die radikale Offenheit, das befreiende Geständnis. Sie begegnete mir zum Beispiel in einem Seminar, als die Teilnehmer ihre schlimmsten Erlebnisse erzählten.
    In diesem Seminar krochen wirklich die Leute unter Tränen in die Mitte auf den Stuhl und beichteten dann, dass ihnen mit achtder Vater gestorben war, sich die Mutter umgebracht hat, als sie neun waren, dann mit zehn … und so weiter.
    Unter uns war eine sehr attraktive Frau, die vielen der Teilnehmer ausnehmend gut gefiel. Sie trug einen kurzen Rock, hatte tolle Beine und … wow, die Fantasie ging mit vielen durch, als sie auf dem Stuhl Platz nahm. Doch die Fantasie blieb recht schnell quer im Kopf stecken. Sie erzählte in kühlem, sachlichem Ton – und gerade das war das Schlimme daran – in allen Details, wie sie von einem Bekannten in der Tiefgarage auf der Motorhaube seines Autos vergewaltigt worden ist.
    Es klingt völlig daneben, aber der Abend war sensationell, und zwar im Ergebnis. Er wirkte unglaublich befreiend auf uns alle. Nicht nur, dass wir unsere düstersten Gedanken teilen konnten und uns auf diese Weise ein Stück weit von ihnen lösen konnten, wir konnten auch durch die Erzählungen der anderen unser eigenes Leid relativieren. Ich fand die meisten der anderen Schicksale weitaus schlimmer als meines. Vergewaltigt jedenfalls wurde ich noch nie. Und diese Relativierung tat gut. Wer in dieser Runde zugehört und sich ausgesprochen hatte, war hinterher seelisch nicht mehr angreifbar. Ja, die Menschen, die aussprechen können, was andere sich nicht trauen, sind nicht angreifbarer, sondern unangreifbarer und freier.
    Mit dieser Erfahrung verstehe ich auch viel besser, was der eigentliche Sinn der katholischen Beichte ist. Und ich verstehe dadurch auch den kalkulierten und sehr gelungenen Befreiungsschlag von Klaus Wowereit, der im Wahlkampf um das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin in einer Rede sagte. »Ich bin schwul – und das ist auch gut so!«
    Heute ist ein schwuler Politiker keine große Sache mehr, aber 2001 war Wowereit der Erste, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte – ein Durchbruch, nicht nur für ihn selbst.
    Während Offenheit befreit, macht Verschlossenheit verletzlich, obwohl sich die Verschlossenen ja gerade deshalb in ihren Schneckenhäusern verbarrikadieren, um nicht verletzt zu werden. Darum gehört auch viel Mut dazu, sich zu öffnen und die Wahrheit

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