Schau Dich Nicht Um
Kleenex, das er ständig zu seiner langen, schmalen Nase führte, gar
nicht mehr vorstellen konnte. Barbaras rotgeränderte Augen drohten sich auf ihre geröteten Wangen zu ergießen.
Jess drehte ihren Sessel zum Fenster und sah in den Schneeregen hinaus, der vom dunklen Himmel herabfiel.
»Ich finde, es lief alles ganz gut«, antwortete Neil mit nasaler Stimme. »Wir haben ein paar wichtige Punkte gemacht.«
»Zum Beispiel?« Jess nickte Barbara Cohen zu.
»Ellie Lupino hat ausgesagt, daß sie gehört hat, wie Terry Wales seiner Frau gedroht hat, sie umzubringen, wenn sie je versuchen sollte, ihn zu verlassen.« Barbara hustete, mußte sich räuspern, um fortfahren zu können. »Und sie hat außerdem ausgesagt, daß Nina Wales nicht fremdgegangen ist.«
»Sie hat ausgesagt, daß ihres Wissens Nina Wales nicht fremdgegangen ist«, präzisierte Jess.
»Sie war fast zehn Jahre lang Ninas beste Freundin. Nina hat über alles mit ihr gesprochen«, warf Neil ein. »Das wird doch bei den Geschworenen bestimmt einiges Gewicht haben.«
»Ellie Lupino hat aber auch zugegeben, daß sie mitangehört hat, wie Nina Wales in aller Öffentlichkeit mehr als einmal ihren Mann verhöhnt hat, und sie hat bestätigt, daß sie gedroht hat, ihm alles zu nehmen, was er hat«, erinnerte Jess die beiden.
»Na und?« fragte Barbara und begann schon wieder zu husten.
»Das ist Wasser auf die Mühlen der Verteidigung. Wenn sie die Geschworenen davon überzeugen können, daß Nina Wales ihren Mann so heftig provoziert hat, daß er in unkontrollierbare Wut geriet -«
»- dann war sie selbst an ihrer Ermordung schuld!« Barbara nieste entrüstet.
»Dann haben wir es höchstens mit Totschlag zu tun.«
»Na schön, nehmen wir mal an, Nina Wales hat sich über ihren Mann lustig gemacht, weil er ein lausiger Liebhaber war. Nehmen wir an, sie hat ihm gedroht, ihn zu verlassen. Aber er hat sie mit Fäusten
geschlagen. Ihre einzige Waffe waren Worte!« Barbara Cohen drückte beide Hände auf ihre Brust, um einen weiteren Hustenanfall zu unterdrücken. Ihre Stimme klang, als wäre sie kurz vor dem Ersticken.
»Wir haben Motiv, wir haben böse Absicht, wir haben eiskalten Vorbedacht«, zählte Neil auf und unterstrich seinen Satz mit einem geräuschvollen Schneuzen.
»Es geht hier schlicht und einfach um eine Frage der Provokation«, erklärte Jess. »In Michigan hat erst vor kurzem ein Geschworenengericht den Ehemann einer Richterin, der seine Frau in ihrem eigenen Gerichtssaal tötete, nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, mit einem Spruch auf Totschlag davonkommen lassen. Die Geschworenen waren der Überzeugung, die Trennung habe ihn provoziert, sie zu töten. Bei einem anderen Prozeß, in New York, wurde ein Amerikaner chinesischer Herkunft auf Bewährung freigelassen, nachdem er seine Frau mit einem Hammer totgeschlagen hat. Die Ehefrau hatte ihn betrogen, und der Richter entschied, daß die Untreue im Rahmen der kulturellen Zugehörigkeit des Ehemanns eine Provokation darstelle.« Sie machte einen Moment Pause. »Die einzige Frage, die diese Geschworenen sich stellen werden, ist, ob sie selbst unter ähnlichen Umständen fähig wären, ebenso zu handeln.«
»Und was willst du damit sagen?« fragte Barbara.
»Ich will damit sagen, daß es letztendlich nur darauf ankommt, wie gut Terry Wales sich im Zeugenstand hält«, antwortete Jess. »Ich will damit sagen, daß wir am besten schon vor Terry Wales selber genau wissen, was er den Geschworenen erzählen wird, und zwar nicht nur, um ihn zu diesen Punkten gründlich ins Kreuzverhör zu nehmen, sondern um ihn total zu demontieren. Ich will damit sagen, daß es nicht leicht sein wird, diesen Prozeß zu gewinnen. Und ich will damit sagen, daß ihr beide jetzt besser verschwindet und in eure Betten kriecht.«
Neil nieste in schneller Folge dreimal hintereinander.
»Gesundheit«, sagte Jess automatisch.
»Wenn jemand eine Erkältung hat, braucht man nicht Gesundheit zu sagen«, teilte Barbara ihr mit. »Das behauptet jedenfalls meine Mutter«, erklärte sie etwas verlegen, schon auf dem Weg zur Tür.
»Ich fand, Richter Harris hat heute ein bißchen mitgenommen ausgesehen«, sagte Neil, der Barbara folgte.
»Wahrscheinlich hat er an Thanksgiving zuviel gefeiert«, sagte Jess und schloß die Tür hinter ihnen.
An ihren Schreibtisch zurückgekehrt, nahm sie sich die Notizen vor, die sie sich am Nachmittag bei Gericht gemacht hatte. Sie spürte ein Kratzen im Hals und stöhnte. »Bloß
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