Schau Dich Nicht Um
fragte Jess.
»Gut, danke«, antwortete Maureen. Das Lächeln war plötzlich verschwunden, ihre Stimme klang kühl und sachlich. »Tyler läuft die Nase, aber uns anderen geht es gut. Und wie ist es bei dir?«
»Alles in Ordnung. Wie war das Thanksgiving-Essen?«
»Sehr nett. Barrys Mutter kocht phantastisch. Aber das interessiert dich ja eigentlich nicht sonderlich.« Es folgte eine unbehagliche Pause. »Und du hast viel zu tun wie immer?«
»Ja, der Prozeß, den ich zur Zeit führe, ist eine heiße Kiste. Der reinste Sensationsprozeß. Du hast sicher davon gelesen.« Jess hielt
inne, als ihr einfiel, daß Maureen schon lange keine Zeitung mehr las.
»Ja, du hast recht, ich hab die Sache verfolgt. Das ist bestimmt beruflich sehr gut für dich, so ein großer Fall.«
»Nur wenn ich den Prozeß gewinne.«
Wieder trat Schweigen ein.
»Du hast lange nichts von dir hören lassen«, sagte Jess, der plötzlich bewußt wurde, daß es immer ihre Schwester gewesen war, die den Kontakt gehalten hatte.
»Ich dachte, du wolltest es so.«
»Ich wollte es so? Wie kommst du denn darauf?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht weil du immer so viel zu tun hast. Jedenfalls zuviel zu tun, um Dads neue Freundin kennenzulernen. Du hast es ja nicht einmal zum Essen ins Bistro geschafft. Du konntest nicht mal zu Stephanie Banack gehen.«
»Aber ich war doch dort.«
»Ja, einmal, okay. Hör zu, Jess, ich möchte da nicht weiter darüber sprechen. Ich glaube dir, daß du viel zu tun hast. Ich weiß ja selbst, wie es ist, wenn man so viel um die Ohren hat. Aber versuch doch nicht, mir einzureden, du wärst so beschäftigt, daß du nicht einmal für deine Familie Zeit hast. Ich empfinde das als eine Beleidigung meiner Intelligenz. Wenn du mit dieser Familie nichts zu tun haben möchtest, so ist das deine Sache. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren.«
»Aber es ist doch nicht wahr, daß ich nichts mit dir zu tun haben will, Maureen...«
»Du willst nur mit meinem Mann nichts zu tun haben.«
»Wir verstehen uns eben nicht. So was gibt’s doch. Das ist schließlich nicht das Ende der Welt.«
»Und wie steht es mit Dad? Wie lange willst du ihn ausschließen?«
»Ich schließe ihn doch gar nicht aus.«
»Nein, nur die Frau, die er liebt.«
»Findest du nicht, du siehst das ein bißchen überspitzt?«
»Ich glaube, unser Vater wird diese Frau heiraten, Jess.«
Wieder Schweigen. »Hat er das gesagt?«
»Das war nicht nötig.«
»Na schön, darüber werd ich mir den Kopf zerbrechen, wenn es soweit ist.«
»Warum mußt du dir überhaupt den Kopf darüber zerbrechen?« fragte Maureen. »Warum kannst du dich nicht einfach für ihn freuen? Warum schaffst du es nicht einmal, dich ihm zuliebe mit ihr zu treffen?«
Jess starrte zum Fenster hinaus. Es war noch nicht einmal sechs Uhr und schon so dunkel. »Ich mach jetzt lieber Schluß. Du mußt sicher das Abendessen machen.«
»Natürlich. Das kann ich am besten.«
»Maureen...«
»Tschüs, Jess. Melde dich wieder.«
Sie hatte aufgelegt, noch ehe Jess ihr Aufwiedersehen sagen konnte. »Wunderbar. Einfach wunderbar.« Jess legte den Hörer auf, dachte daran, ihren Vater anzurufen, ließ es dann doch bleiben. Sie wollte nicht noch eine enttäuschte Stimme hören.
Wieder einmal fragte sie sich, was eigentlich mit ihr los war. Warum konnte sie nicht einfach akzeptieren, daß ihr Schwager ein blöder Kerl war, ihre Schwester die perfekte Hausfrau und Mutter, ihr Vater sich verliebt hatte? Seit wann war sie so intolerant und unflexibel? Mußte denn jeder sein Leben nach ihren Vorstellungen leben? Führte sie selbst denn ein so vorbildliches Leben?
Die Tür zu ihrem Büro wurde geöffnet. Greg Oliver stand auf der Schwelle. Der süße Duft von Aramis wehte ihr entgegen.
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Jess seufzend.
»Wieso bin ich nicht überrascht, dich hier zu finden«, sagte er, und es war weniger Frage als Feststellung.
»Vielleicht, weil du mich beim Telefonieren gehört hast.«
»Ach, das warst du, die da so gequengelt hat?«
Jess seufzte wieder. »Ja, das war ich.«
»Mir scheint, du könntest einen Drink gebrauchen.«
»Ich brauch nur ein Bett.«
»Das ließe sich auch arrangieren.« Er zwinkerte ihr zu.
Jess verdrehte die Augen und stand auf. »Wie läuft der O’Malley-Prozeß?«
»Schon im Sack. Spätestens zum Ende der Woche müßte der Fall abgeschlossen sein. Und was macht der Racheengel mit der Armbrust?«
»Ich hoffe,
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