Schau mir ins Herz
haben, dass sie heute nicht kommen, als ich sie gestern aufforderte, um elf Uhr vormittags am Drehort zu sein.“
„Aus Höflichkeit vermutlich“, erwiderte Nicolas. „Sie wollten Sie nicht darauf hinweisen, dass Ihnen ein Fehler unterlaufen ist.“
„Warum haben Sie es mir nicht gesagt?“, wollte der Regisseur wissen. „Kein Mensch würde Sie übermäßiger Höflichkeit bezichtigen.“
Nicolas nickte. „Ich hätte es getan, wenn ich nicht damit beschäftigt gewesen wäre, die ganze Insel nach Madrilena abzusuchen.“ Er hielt inne und lächelte. „Und einen hervorragenden Ersatz für sie zu finden.“ Sein Blick begegnete Carols, und sie fragte sich, ob er ihr ein Kompliment gemacht hatte oder nicht. Die Bemerkung selbst war nicht unbedingt schmeichelhaft, aber in der Art, wie er sie dabei anschaute, lag Anerkennung, beinahe so etwas wie Besitzerstolz. Plötzlich fielen ihr Elaines warnende Worte wieder ein. Sie sah fort und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das köstlich aussehende Essen.
Nachdem Nicolas sie zu Tisch gebeten hatte, erkundigte sich Tony: „Wie lange dauern die Feierlichkeiten?“
„Zwei Tage“, erwiderte Nicolas. „Heute Nachmittag beginnt der Umzug, und am Abend wird auf den Plätzen getanzt. Und das Gleiche findet morgen noch einmal statt.“
Varelle griff sich an die Stirn. „Zwei Tage!“, stöhnte er. „Aber gut, morgen ist Sonntag, und da hätte sowieso kein Gozitaner gearbeitet, wie ich inzwischen nur allzu gut weiß. Letzten Sonntag konnte ich auch nur die Nahaufnahmen mit Antonio und Madrilena drehen.“
„Was ein großes Glück war“, warf Kate ein. „Andernfalls hätten wir jetzt ein Problem.“
„Gott sei Dank ist Montag kein Feiertag.“ Varelle wandte sich zu Nicolas. „Als Grundbesitzer bewundere ich Sie, mein Freund, mit all Ihren Plänen für Bewässerungs- und Entsalzungsanlagen und Ihrem Vorhaben, dieses felsige Eiland fruchtbar zu machen. Aber Sie wären ein miserabler Regisseur. Sie haben keinen Begriff von Budgeteinhaltung, Überstunden, Zeitdruck. Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass Sie Ihren Leuten eine gute Verdienstmöglichkeit vorenthalten, wenn Sie sie nicht ermutigen, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten?“
„Während des Volksfestes? Mein lieber Varelle, Sie sind es, der keinen Begriff von den Gegebenheiten hat. Was hätten die Leute davon, wenn sie heute und morgen für Sie arbeiten? Eine Extraeinnahme. Aber es geht um mehr. Sie würden anfangen, ihre Traditionen aufzugeben. Und wichtiger noch, ihre Selbstachtung. Gozo ist nicht reich, doch diese beiden Dinge sind wichtig für die Menschen, die hier leben.“
Die Menschen hier liegen ihm wirklich am Herzen, dachte Carol. Wahrscheinlich findet er es unerträglich, dass seine Landsleute immer mehr zur Touristenattraktion werden und Strohhüte und Spitzentaschentücher verkaufen.
Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn beobachtete und mit Varelle verglich. Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Es belustigte sie zu sehen, dass der quirlige Regisseur allmählich dem Zauber seiner Umgebung erlag – oder vielleicht dem Charme ihres Gastgebers? Und Nicolas war hier in seinem palazzo so gelöst, wie sie ihn bisher nicht erlebt hatte. Er saß entspannt da, während er Varelle lauschte, still und ohne Energie für unnötige Bewegungen zu verschwenden, während der Regisseur ständig mit allen Gliedmaßen gleichzeitig zu gestikulieren schien.
Varelles Quecksilbrigkeit ließ Nicolas’ ruhige Stärke noch deutlicher hervortreten. Sein Schweigen, wenn er dem Regisseur zuhörte, hatte nichts damit zu tun, dass er dessen Ansichten teilte, sondern sie vielmehr einer Beurteilung unterzog. Seine Zurückhaltung war nicht im Mindesten passiv, eher eine Demonstration von Wachheit und Kraft. Carol kam zu der Überzeugung, dass jemand, der ernsthaft die Klingen mit ihm kreuzen wollte, einen schweren Stand haben würde.
Eine Bemerkung, die Tony ein paar Stunden zuvor gemacht hatte, kam ihr in den Sinn – dass man dem barone nachsagte, er habe bereits drei Beinahe-Bräute gehabt. Das war sicherlich eine Übertreibung, doch auch wenn es nicht drei waren, sondern nur eine, fragte Carol sich unwillkürlich, was für eine Frau es gewesen sein mochte, die Nicolas fast, aber dann eben doch nicht geheiratet hatte.
In diesem Moment sah er hoch und fing ihren Blick auf. Obwohl sie sofort auf ihren Teller schaute, war ihr bewusst, dass er sie nicht aus den Augen ließ.
„Sind Sie mir
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