Scheherazade macht Geschichten
oder ob sie nicht immer noch irgendwo in der Nähe lauern.«
Scheherazade war sicher, daß der Posten damit der Wahrheit näher kam, als die Anwesenden vermuteten. Ja, in der Tat, auch sie war der festen Überzeugung, daß die übernatürlichen Kräfte noch immer am Werke waren und ihnen auf dem Boden der Waffenkammer in Form der Schwerter eine Falle gestellt hatten.
Im Augenblick schrie der erste Wachposten vor Schmerz auf.
»Was ist geschehen?« rief der König in recht unköniglicher Hast.
»Nun, es sieht so aus, als hätte ich mich selbst geschnitten, als ich dieses Schwert in die Scheide zurückstecken wollte«, erklärte der Soldat, während er ihnen einen Finger entgegenstreckte. Eine gezackte, blutende Wunde verunstaltete ihn. »Es ist nur eine Fleischwunde. Die Schwerter sind wirklich außergewöhnlich scharf. Und irgendwie lassen sie sich gar nicht gut greifen und festhalten.«
»Heißt das, etwas stimmt mit den Schwertern nicht?« fragte der König mit wachsender Besorgnis.
»Ich habe niemals zuvor edleren Stahl gesehen«, antwortete die zweite Wache. »Wenn hier etwas nicht stimmt, dann ist es höchstens unsere unzulängliche Art, mit der wir diese Waffen führen.«
»Ja, genau«, stimmte ihm der König aufgeregt zu. »Vielleicht sollte in Zukunft nur noch ich sie berühren.« Seine Finger krampften sich zusammen, als würden sie sich um einen Schwertknauf legen. »Und vielleicht sollte ich es jetzt tun!«
Scheherazade mußte all ihren Willen aufbieten, um nicht ihre Hände schützend um den Hals zu legen, als sie in sanftem und beruhigendem Tonfall folgenden Vorschlag machte: »O mein König und Ehegatte, Ihr habt einen wirklich anstrengenden Tag am Ende einer anstrengenden Woche hinter Euch. Die Wachen haben Euch bestätigt, daß mit den Schwertern alles in Ordnung ist, und welche Gefahr auch immer bestanden haben mag, nun ist sie sicher vorüber. Würdet Ihr es denn nicht viel mehr genießen können, wenn Ihr am Morgen mit Euren Waffen übt, nachdem Ihr Euch genügend ausgeruht und erfrischt habt?«
Der König schüttelte heftig den Kopf, als wolle er die Nachwirkungen eines Schlages auf denselben vertreiben. »Ja, gewiß. Ohne Zweifel hast du vollkommen recht.« Er winkte geistesabwesend in Richtung der Waffenkammer. »Wachen! Legt die Schwerter zurück auf das höchste Regal. Ich werde sie mir morgen früh ansehen. Dann verschließt die Tür und gebt mir die Schlüssel wieder!«
Die Wachen gehorchten, und ohne daß es zu einem weiteren Zwischenfall gekommen wäre, zogen sie sich schließlich auf ihre Posten zurück. In den Gemächern herrschte wieder Stille. Kein Scheppern drang mehr aus der Waffenkammer, keine Laute waren mehr zu hören, die man einer Ziege und einem Huhn hätte zuschreiben können.
»Nun gut«, meinte Scheherazade, als die beiden Wachen gegangen waren, »jetzt, wo alles wieder ruhig ist, kann ich mit meiner Geschichte fortfahren.«
Doch der König schüttelte den Kopf. »Nicht heute nacht. Keine Geschichten mehr. Und keine Schwerter mehr.« Er durchquerte müden Schrittes den Raum und ließ sich erschöpft auf den königlichen Diwan fallen. »Heute nacht wird geschlafen.«
Scheherazade wußte, daß sie über diese Entscheidung eigentlich hätte froh sein müssen, denn der König schenkte ihr damit sowohl eine Erholungspause von ihrem Erzählen als auch eine weitere Nacht, in der sie nicht befürchten mußte, den Kopf zu verlieren. Und dennoch konnte sie nicht umhin, sich große Sorgen über die Geschehnisse dieser Nacht zu machen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie sich nun noch mehr vor den Schwertern in acht nehmen mußte – jetzt, wo eines von ihnen mit Blut benetzt worden war.
Das 15. der 35 Kapitel,
in dem offenbar wird,
daß es nicht nur eine Verschwörung, sondern derer zwei gibt.
Und so kam es also, daß Scheherazade zum erstenmal seit langer Zeit des Nachts wieder schlief und ihre Augen im Morgengrauen öffnete – eine Zeitspanne, die ihr wie Jahre und Monate vorkam, obwohl es in Wahrheit natürlich nur ein paar Tage gewesen waren. Der König jedoch schien an diesem Morgen viel besserer Laune zu sein. »Zum erstenmal seit ich weiß nicht mehr wie lange fühle ich mich wirklich erfrischt«, meinte er, und seine Stimme klang so kräftig und fröhlich, daß sie im ganzen Zimmer widerhallte. »Wahrlich, dies ist ein Tag, um Recht zu sprechen! Und du, meine Königin? Ich nehme an, deine Geschichte heute abend ist doppelt so spannend wie sonst,
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