Scheintot
Moment.
»Wieso fragen Sie nach ihm?« Als sie keine Antwort gab, beugte er sich zu ihr und legte beide Hände auf die Rückenlehne des Stuhls. »Dr. Isles«, sagte er. Seine Stimme war plötzlich ganz leise, seine Lippen dicht an ihren Haaren. »Möchten Sie mir nicht verraten, was Sie denken?«
Ihr Blick war starr auf den Monitor gerichtet. »Ich versuche nur, die Zusammenhänge zu begreifen.«
»Spüren Sie schon das Kribbeln?«
»Was?«
»So nenne ich das, wenn ich plötzlich merke, dass ich an einer interessanten Sache dran bin. Auch als außersinnliche Wahrnehmung oder sechster Sinn bekannt. Sagen Sie mir, wieso Sie bei Senator Conway plötzlich aufmerken und ganz große Augen bekommen.«
»Er sitzt im Geheimdienstausschuss.«
»Ich habe ihn letztes Jahr im November oder Dezember interviewt. Der Artikel ist da irgendwo.«
Sie überflog die Überschriften – über Anhörungen im Kongress, Terrorwarnungen und die Verhaftung eines Kongressabgeordneten aus Massachusetts wegen Alkohols am Steuer, bis sie schließlich den Artikel über Senator Conway gefunden hatte. Dann aber fiel ihr Blick auf eine andere Überschrift, datiert auf den fünfzehnten Januar.
Bostoner auf Yacht tot aufgefunden. Geschäftsmann wurde seit 2. Januar vermisst.
Es war dieses Datum, das sie aufmerken ließ: der zweite Januar. Sie klickte den Eintrag an, und der Bildschirm füllte sich mit Text. Gerade erst hatte Lukas über
das Kribbeln
gesprochen. Jetzt spürte sie es.
Sie drehte sich zu ihm um. »Erzählen Sie mir von Charles Desmond.«
»Was wollen Sie über ihn wissen?«
»Alles.«
30
Wer bist du,
Mila!
Wo bist du!
Irgendwo musste doch eine Spur von ihr zu finden sein. Jane schenkte sich Kaffee nach, setzte sich an den Küchentisch und sah noch einmal alle Akten durch, die sie angesammelt hatte, seit sie aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Da waren Obduktionsberichte und die Ergebnisse der Laboruntersuchungen des Boston PD, die Akten der Kollegen aus Leesburg über das Massaker von Ashburn, Moores Unterlagen über Joseph Roke und Olena. Sie hatte diese Akten schon mehr als einmal nach Hinweisen auf Mila durchforstet, jener Frau, deren Gesicht niemand kannte. Der einzige konkrete Beweis dafür, dass Mila je existiert hatte, stammte aus dem Innenraum von Joseph Rokes Wagen: mehrere menschliche Haupthaare, die auf dem Rücksitz gefunden worden waren und weder von Roke noch von Olena stammten.
Jane nippte an ihrem Kaffee und griff noch einmal nach der Akte über den Wagen, den Joseph Roke in Boston abgestellt hatte. Sie hatte inzwischen gelernt, ihre Arbeitszeit mit Reginas Schlafphasen zu synchronisieren, und jetzt, nachdem ihre Tochter endlich eingeschlafen war, verlor sie keine Zeit und stürzte sich sofort in die Suche nach Mila. Wieder studierte sie die Liste der im Wagen gefundenen Gegenstände, nahm sich noch einmal die Aufstellung seiner armseligen Sammlung materieller Besitztümer vor. Eine Reisetasche voll mit schmutziger Wäsche und gestohlenen Handtüchern von einer Motelkette. Eine Tüte mit schimmligem Brot, ein Glas Erdnussbutter und ein Dutzend Dosen Wiener Würstchen. So ernährte sich ein Mann, der nie zum Kochen kam. Ein Mann auf der Flucht.
Sie blätterte weiter zum Bericht der Spurensicherung und konzentrierte sich auf die Resultate der Haar- und Faseranalyse. Das Auto war ungewöhnlich stark verschmutzt gewesen, und sowohl die Vordersitze als auch die Rückbank hatten eine reiche Ernte an Fasern geliefert, sowohl natürlichen als auch künstlichen Ursprungs, dazu zahlreiche Haare. Es waren die Haare vom Rücksitz, die sie besonders interessierten, und sie studierte den Bericht eingehend.
Menschlich, A02/B00/C02 (7cm)/D42
Kopfhaar. Leicht gebogen, Schaft sieben Zentimeter lang, Pigmentierung mittelrot.
Das ist bis jetzt alles, was wir über dich wissen, dachte Jane. Dass du kurze rote Haare hast.
Sie wandte sich den Fotos vom Wagen zu. Auch diese kannte sie schon, aber noch einmal sah sie sich die leeren Red-Bull-Dosen und die zerknüllten Schokoriegelverpackungen genau an, die zusammengefaltete Decke und das schmutzige Kopfkissen. Ihr Blick verharrte auf dem Boulevardblatt, das auf dem Rücksitz lag.
Die
Weekly Confidential.
Wieder einmal fiel ihr auf, wie fehl am Platz diese Zeitschrift im Auto eines Mannes wirkte. War es wirklich denkbar, dass Joe sich für Melanie Griffiths Problemchen interessiert hatte oder dafür, wessen geschäftlich verreister Ehemann sich mit Stripperinnen
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