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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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heiß, dass ihr schon beim Verstauen ihrer Einkäufe im Kofferraum der Schweiß ausbrach. An den Autositzen hätte man sich den Hintern versengen können. Bevor sie Regina in ihren Kindersitz schnallte, ließ Jane die Türen eine Weile offen stehen, um den Innenraum auszulüften. Einkaufswagen ratterten vorüber, geschoben von schwitzenden Käufern. Eine Hupe ertönte, und ein Mann schrie: »He, pass doch auf, wo du hinläufst, du Idiot!« Niemand von diesen Leuten wollte zu dieser Jahreszeit in der Stadt sein. Sie hätten alle lieber mit einem Eis in der Hand am Strand gelegen, als sich hier ihren Weg durch Scharen von anderen genervten Bostonern zu bahnen.
    Regina begann zu weinen; die dunklen Löckchen klebten an ihrer verschwitzten Stirn. Noch so eine genervte Bostonerin. Sie schrie immer lauter, während Jane sie auf den Rücksitz bugsierte und festschnallte, und sie schrie auch noch, als Jane den Wagen schon mehrere Häuserblocks weiter durch den stockenden Verkehr steuerte, mit der Klimaanlage auf höchster Stufe. Wieder musste sie vor einer roten Ampel halten, und sie dachte: Lieber Gott, hilf mir, diesen Nachmittag zu überstehen.
    Ihr Handy klingelte.
    Sie hätte es einfach weiterläuten lassen können, aber schließlich fischte sie es doch aus der Tasche und las eine örtliche Nummer vom Display ab, die ihr nicht bekannt vorkam.
    »Hallo?«, meldete sie sich.
    Wegen Reginas lautstarker Unmutsäußerungen konnte sie die Frage kaum verstehen: »Wer sind Sie?« Die Stimme war leise, und sie erkannte sie sofort wieder.
    Janes ganzer Körper spannte sich an. »Mila? Legen Sie nicht auf! Bitte legen Sie nicht auf! Reden Sie mit mir!«
    »Sie sind von der Polizei.«
    Die Ampel sprang auf Grün, und hinter ihr hupte jemand.
    »Ja«, gab sie zu, »ich bin Polizistin. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen.«
    »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    »Ich war bei Olena, als …«
    »Als die Polizei sie tötete?«
    Der Fahrer hinter ihr drückte wieder auf die Hupe, eine unerbittliche Aufforderung, doch bitte den Verkehr nicht länger aufzuhalten.
Arschloch.
Sie trat das Gaspedal durch und schoss über die Kreuzung, das Handy immer noch ans Ohr gepresst.
    »Mila«, sagte sie. »Olena hat mir von Ihnen erzählt. Es waren ihre letzten Worte – sie wollte, dass ich Sie finde.«
    »Gestern Abend haben Sie Polizisten losgeschickt, die mich fangen sollten.«
    »Ich habe sie nicht…«
    »Zwei Männer. Ich habe sie gesehen.«
    »Das waren Freunde von mir. Wir versuchen alle nur, Sie zu schützen. Es ist gefährlich für Sie da draußen, so ganz allein.«
    »Sie wissen gar nicht, wie gefährlich.«
    »O doch, das weiß ich!« Sie hielt inne. »Ich weiß, warum Sie auf der Flucht sind, warum Sie solche Angst haben. Sie waren in diesem Haus, als Ihre Freundinnen erschossen wurden. Nicht wahr, Mila? Sie haben alles mit angesehen.«
    »Ich bin die Einzige, die noch übrig ist.«
    »Sie könnten vor Gericht aussagen.«
    »Vorher bringen sie mich um.«
    »Wer?«
    Schweigen war die Antwort. Bitte, leg nicht wieder auf, dachte Jane. Bleib am Apparat. Sie entdeckte eine Parklücke und lenkte den Wagen abrupt an den Straßenrand. Dann saß sie da, das Handy ans Ohr gedrückt, und wartete darauf, dass die Frau etwas sagte. Auf dem Rücksitz schrie Regina unermüdlich weiter, von Minute zu Minute ungehaltener darüber, dass ihre Mutter es wagte, sie zu ignorieren.
    »Mila?«
    »Welches Baby weint da?«
    »Das ist meine Tochter. Sie ist bei mir im Auto.«
    »Aber Sie sagten, Sie sind von der Polizei.«
    »Ja, das bin ich auch. Das
habe
ich Ihnen doch schon erklärt. Mein Name ist Jane Rizzoli. Ich bin bei der Kriminalpolizei. Sie können das überprüfen, Mila. Rufen Sie beim Boston Police Department an, und fragen Sie nach mir. Ich war bei Olena, als sie starb. Ich wurde mit ihr in diesem Gebäude gefangen gehalten.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ich konnte sie nicht retten.«
    Wieder trat Schweigen ein. Die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren, und Regina schrie immer noch, offenbar fest entschlossen, graue Haare aus dem Kopf ihrer Mutter sprießen zu lassen.
    »Im Stadtpark«, sagte Mila.
    »Was?«
    »Heute Abend. Neun Uhr. Warten Sie am Teich.«
    »Werden Sie dort sein? Hallo?«
    Die Leitung war tot.

33
    Die Dienstpistole an Janes Hüfte fühlte sich schwer und merkwürdig fremd an. Einst wie eine alte Freundin hatte sie die letzten Wochen unbeachtet in einer abgeschlossenen Schublade gelegen. Nur widerstrebend hatte Jane sie

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