Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
ausgebeutet, heute war der Osten ein Reservoir an billigen Arbeitskräften – auf dem Bau und in den Haushalten. Früher waren die Frauen noch mit Touristenvisum aus Osteuropa eingereist, heute gab es eine semilegale Grauzone, an der die Politik auch besser nicht rüttelte. Sonst müsste Mitteleuropa nämlich nicht nur Krippenplätze zur Verfügung stellen, sondern auch ganze Batterien von Pflegeheimen bauen. Ohne das Kommen und Gehen der Ostfrauen wäre das System längst kollabiert, und Irmi traute sich kaum daran zu denken, was wohl passieren würde, wenn eines Tages die gesamte Babyboomergeneration der frühen Sechziger über achtzig sein würde.
»Sie waren ja in einem ähnlichen Alter wie Ionella – hatten Sie denn näheren Kontakt zu ihr?«
»Mei, na ja, zumindest einmal in der Woche. Wir sind freitags immer zusammen zum Einkaufen nach Ogau gefahren. In der Zeit war jemand von der Familie bei den Großeltern. Da hab ich mir immer viel Zeit gelassen, und wir waren mal ein Eis essen oder so. Die Mädchen kamen ja sonst nie raus.«
»Die arbeiten also wirklich vierundzwanzig Stunden am Tag, und das über mehrere Wochen? Ohne geregelte Arbeitszeiten?«, fragte Kathi staunend.
»Das geht doch nicht anders! Anna Maria und ich haben uns mal nach deutschen Pflegekräften erkundigt, aber da kriegst du niemanden! Höchstens welche für eine Achtunddreißigstundenwoche, aber keine, die nachts dableiben würde. Und das war doch das Wichtigste. Der Opa muss aufs Klo begleitet werden, damit er nicht stürzt, und die Oma hat Nächte, da weint sie nur.«
»Schlaf kriegen die Mädchen dann aber wenig, oder?«, sagte Irmi und wollte eigentlich gar nicht, dass das wie ein Vorwurf klang.
»Sagen Sie mir eine Lösung! Haben Sie eine?« Vroni war lauter geworden, ihre Wangen hatten sich gerötet.
Natürlich hatte sie keine. Irmi fiel es schwer, etwas zu erwidern.
»Wenn Sie am Freitag unterwegs waren, hat Ionella denn dann auch mal andere Leute getroffen?«, ergriff Kathi das Wort.
»Wir haben oft die Tereza Benesch zum Einkaufen mitgenommen, sie arbeitet gerade als Pflegerin beim Beck. Und Ionella hat mal eine Norwegerin kennengelernt, eine Studentin. Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, dass Ionella eine Gefangene war. Ich hab öfter auf die Großeltern aufgepasst, da konnte Ionella sonntags in die Kirche gehen oder abends mal rüber zu Tereza. Oder diese Norwegerin besuchen, komisch, jetzt fällt mir ihr Name gar nicht ein. Sie hat immer gesagt, dass sie das schon aushält, weil es ja nur für eine begrenzte Zeit ist. Und weil zwölfhundert Euro für sie wahnsinnig viel Geld ist. In Ionellas Familie sind alle ständig irgendwo beim Arbeiten, nur der Bruder, der noch zur Schule geht, ist immer daheim. Sogar ihre Mutter geht als Pflegerin zu einer Familie in Stuttgart. Der Vater und der große Bruder sind oft in Österreich auf dem Bau. Dann treffen die sich monatelang nicht. Das ist doch krass!«
Ja, das war krass. Wie beklemmend, dass dieses Europa es nicht schaffte, Menschen in ihren Heimatländern ein würdiges Leben zu ermöglichen. Derweil pflegten viele junge Leute hier im schönen Bayern die Kultur des Nesthockens, weil Mama so schön kochte und wusch und eine Lehrstelle in Schongau draußen schon fast eine Zumutung war. Früher war es der Hunger gewesen, der die Menschen hinausgetrieben hatte. Gute Zeiten machten fett und faul. Eigentlich war es frustrierend, dass ein weiter Horizont oft nur aus der Not geboren war, dachte Irmi.
Inzwischen war die Röte aus Vronis Gesicht gewichen. »Meinen Sie, die zweite Tote im Silo könnte die Tereza oder das andere Mädchen gewesen sein?«
»Das müssen wir herausfinden, Vroni. Und Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie uns die Telefonnummer von Ionellas Eltern und einen Kontakt zu Tereza geben könnten«, sagte Irmi. »Hatte Ionella denn ein Handy und einen Laptop?«
»Handy schon, aber ein altes. Immerhin konnte sie bei Tereza ins Internet gehen, bei Oma und Opa gibt es kein WLAN . Da hängt ja noch ein Wählscheibentelefon an der Wand.« Sie lachte etwas gequält.
Vielleicht war diese Tereza ja ein Schlüssel zu Ionella. Irmi hoffte sehr, dass sie sich tatsächlich gerade in einer Münchner Augenklinik aufhielt und nicht im Silo gelegen hatte. Doch wer war dann die zweite Person? Runa, die strahlende Norwegerin?
»Vroni, Ihre Oma hat gesagt, Ionella hätte sie mit dem Messer bedroht und heißen Tee über sie geschüttet.«
Vroni spielte hektisch mit ihren
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