Schicksalsfäden
muss doch irgendwo ein paar Bücher haben, in denen ich ein wenig lesen könnte.«
Haushälterin und Hausmädchen grinsten aus irgendeinem Grund breit und tauschten vielsagende Blicke aus. »Es gibt hier ein paar Bücher, ja. Ich bringe Sie in Mr. Morgans bescheidene Bibliothek, aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich nicht überanstrengen und besonders Ihren Knöchel schonen.«
Hocherfreut über die Aussicht auf einen Tapetenwechsel, nahm Vivien Mrs. Buttons Arm und ging mit ihr langsam, Schritt für Schritt die Treppe hinunter. Vivien wurde wieder einmal bewusst wie schön dieses Haus war: dicke englische Teppiche, dunkle Mahagoni-Täfelung, klassische Sheraton-Möbel, marmorverkleidete Kamine. je näher sie der Bibliothek kamen, desto stärker wurde der Geruch nach Leder, Bienenwachs und altem Papier. Vivien wurde von diesem Duft geradezu magisch angezogen. Sie trat in den hohen Raum, bewegte sich bis in seine Mitte vor und drehte sich begeistert einmal um die eigene Achse. Ihr Gesicht strahlte vor Freude.
»Dies ist das größte Zimmer im Haus«, verkündete Mrs. Buttons stolz. »Mr. Morgan hat keine Kosten und Mühen gescheut um seinen Büchern die angemessene Umgebung zu verschaffen.«
Verträumt ging Vivien die Glastüren der bis an die Decke reichenden Bücherschränke entlang, las die goldgeprägten Buchrücken der wertvollen Folianten. Aber dies war offensichtlich nicht eine Art von privatem Museum. Auch die Tische quollen über von Büchern. Aufeinandergestapelt und zum Teil geöffnet bedeckten sie jeden Zentimeter. Hier wurde gearbeitet das sah man gleich.
»Offenbar keine Sammlung der Eitelkeiten, stimmt’s?«, fragte Vivien.
»Stimmt«, antwortete Mrs. Buttons, »der Hausherr liebt diese Bücher wirklich über alles.« Während sie das sagte, rückte Mrs. Buttons einen Sessel in die Nähe des knisternden Kaminfeuers und zog anschließend die Vorhänge zurück, um mehr Tageslicht hereinzulassen. »Lassen Sie sich Zeit schauen Sie sich um«, sagte sie dann aufmunternd. »Soll ich Ihnen eine Tasse Tee bringen lassen, Miss Duvall?«
Immer noch ging Vivien versunken an den Bücherregalen entlang und auf Mrs. Buttons’ Frage schüttelte sie nur leicht den Kopf. Erst als die Haushälterin laut auflachte, drehte sich Vivien um. »Ich habe nie jemanden getroffen, der Bücher so ansieht wie mein Mr. Morgan. Bis heute.« Sie lachte noch einmal in sich hinein und verlies dann die Bibliothek. Mit einem Mal war es still um Vivien.
Erst jetzt traute sie sich, eines der Regale zu öffnen und mit einem Finger an den Buchrücken entlang zu fahren.
Dies war offensichtlich die Abteilung Poesie. Und als sie nacheinander mit ihren Lippen lautlos die Titel las, geschah etwas Seltsames: Ihr wurde auf einen Schlag bewusst dass sie diese Titel kannte. Die Erkenntnis lies sie erschauern und wie gebannt nahm sie eines der Bücher in die Hand und schlug es auf. Es war John Keats’ Ode an eine griechische Urne. Es kam ihr so vor, als würde dieser Titel eine Kammer ihres Bewusstseins öffnen, die bisher verschlossen geblieben war. Zutiefst erschüttert griff Vivien nach weiteren Büchern, während sie den Keats-Band an ihre Brust drückte: Shakespeare, Donne, Blake, sie schlug die Bücher wahllos auf, las laut erkannte sofort, was sie las, wusste die Texte auswendig, Bücher fielen ihr aus der Hand auf den Boden, aber sie beachtete es gar nicht, so erleichtert war sie darüber, dass sie sich an etwas erinnern konnte. An Literatur. Sie drückte die Bücher an ihre Brust als wären sie Freunde die ihr Mut geben konnten. Sie wollte sich mit ihnen in eine stille und warme Ecke zurückziehen und lesen, lesen, lesen. Vor allem: sich erinnern.
Auf einem der unteren Regalfächer entdeckte sie eine abgegriffene Ausgabe der Meditationen von Descartes.
Fieberhaft schlug sie das Buch auf und las wahllos eine Passage.
Beinahe wäre Vivien das Buch aus der Hand gefallen. Sie war sich absolut sicher, dass sie diese Schriften studiert hatte, dass sie diese Worte wieder und wieder gelesen hatte, dass sie diese Weisheiten mit einem Menschen geteilt hatte, den sie sehr liebte. Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern, genoss die Wärme und ein neues Gefühl der Sicherheit, der Vertrautheit, das erste Mal seit langer Zeit.
»Das ist aber eine Überraschung, Sie hier zu finden«, schreckte sie plötzlich eine raue, tiefe Stimme auf, »scheint so, als hätten Sie etwas gefunden, das Sie brennend
Weitere Kostenlose Bücher