Schicksalsfäden
so unwichtig, aber diese Bücher geben mir wirklich Hoffnung«, sagte Vivien, während sie ein Buch vom Stapel nahm und in ihren Schoß legte. »Es ist nicht viel, ich weiß, aber vielleicht kann ich mich bald an noch mehr erinnern als daran, ein paar Bücher gelesen zu haben.«
»Sie sagten vorhin, Sie hätten mit jemandem zusammen diese Bücher gelesen.« Er nahm nachdenklich einen Schluck, ohne den Blick von ihrem lieblichen Gesicht abzuwenden. »Es hörte sich so an, als hätten Sie von einem Mann gesprochen. Können Sie sich vielleicht an diesen Mann erinnern? Seine Stimme oder wie er aussah? Vielleicht den Ort wo Sie ihn getroffen haben?«
»Nein«, sagte sie mit Wehmut in der Stimme. »Und immer wenn ich versuche, mich ganz fest an etwas zu erinnern, fühle ich mich so …«, sie starrte in ihr Weinglas, »… so einsam«, beendete sie den Satz mit hörbarer Mühe. »Es ist so ein Gefühl, als hätte ich etwas oder jemanden vor langer Zeit verloren, jemanden, der mir sehr viel bedeutete.«
Eine verlorene Liebe, dachte Grant und stemmte sich bei diesem Gedanken gegen eine Welle der Eifersucht. Um seine Gefühle zu verbergen, starrte er in sein Glas.
»Hier, bitte«, flüsterte Vivien und reichte Grant das Buch. »Was ist Ihre Lieblingsstelle bei Keats?«
Grant nahm das Buch entgegen, und während er es durchblätterte, blickte Vivien auf sein gesenktes Haupt sein glänzendes schwarzes Haar, das im Licht des Kaminfeuers schimmerte wie Ebenholz. Obwohl es sehr kurz geschnitten war, erkannte man noch die natürlichen Locken. Er könnte sich die Haare länger wachsen lassen, dachte Vivien bei sich, das würde seinen harten Zügen etwas Weiches, Empfindsames geben.
Ihr Blick wanderte von seinem Kopf auf die Hände, in denen er das Buch hielt, das in ihnen fast verschwand. Es waren keine Hände, die einen Bildhauer faszinieren würden. Dafür waren sie zu groß, zu rau. Dabei fand Vivien, dass diese Hände es verdient hätten, denn sie empfand sie als viel schöner als die feingliedrigen, zarten, verhätschelten Hände eines so genannten Gentleman. Zu Grant hätten solche Hände sowieso nicht gepasst. Vivien musste lächeln bei dem Gedanken.
In diesem Moment blickte Grant auf, sah ihr Gesicht und fragte: »Was ist denn so komisch?«
Statt eine Antwort zu geben, stand Vivien mit rauschendem Kleid auf und kniete sich vor Grant auf den Boden. Sie nahm seine riesige Hand und legte sie an ihre kleine. Der Größenunterschied war der zwischen einem Erwachsenen und einem Kind.
»Ich kann mich zwar an keine meiner männlichen Bekanntschaften erinnern, aber Sie müssen zweifellos der größte Mann sein, den ich je getroffen habe.« Ihre zusammengelegten Hände wurden heiß und Vivien zog ihre weg. Sie bemerkte einen feuchten Film darauf und wischte ihn unauffällig, wie sie hoffte, an ihrem Kleid ab. »Wie ist die Welt wenn man so groß ist?«
»Schmerzhaft«, sagte er mit einem Schmunzeln und legte das Buch beiseite. »Ich glaube, ich habe schon mit jedem Türrahmen in London persönlich Bekanntschaft gemacht.«
»Sie müssen in Ihrer Jugend ein sehr schlaksiger Junge gewesen sein.«
»Das Stimmt. Wie ein Affe auf Stelzen«, sagte er und Vivien prustete los.
»Armer Grant, haben die anderen Kinder Sie gehänselt?«
»Pausenlos. Und wenn sie mich nicht gehänselt haben, haben sie mich verprügelt. Jeder war scharf darauf, den größten jungen der Gnädigen Jungfrau fertig zu machen.«
»Der Gnädigen Jungfrau?« Vivien zog die Augenbrauen hoch. »War das die Schule, auf die Sie gegangen sind?«
»Keine Schule«, sagte Grant plötzlich ernst »ein Waisenhaus.« Als Vivien darauf nichts sagte, warf er ihr einen unergründlichen Blick zu der die Stille zu durchschneiden schien. In ihm las Vivien zum ersten Mal Trotz und auch eine tiefe Bitterkeit die sie vorher in dem Grün seiner Augen nicht vermutet hätte. »Ich war nicht immer ein Waisenkind«, fuhr Grant unerwartet fort. »Ich weiß, dass mein Vater Buchhändler war, ein guter und ehrlicher Mann, aber kein guter Geschäftsmann, muss man leider sagen. Beides, seine Güte und sein mangelnder Geschäftssinn, wurden der Familie zum Verhängnis: Er lieh Freunden in Not Geld, viel Geld, und bekam es nie zurück. Als dann noch die Geschäfte schlecht liefen, musste die gesamte Familie ins Schuldgefängnis. Das ist das Ende, da kommt man nicht mehr raus. Schließlich gibt es keine Möglichkeit seine Schulden abzuzahlen, wenn man hinter Gittern ist.«
»Wie alt
Weitere Kostenlose Bücher