Schicksalsfäden
würde er Vivien jemals so vertrauen können, dass er sich ihr offenbarte? Sie glaubte es nicht.
Stets ließ er sie spüren, was er von ihrem Lebenswandel vor dem Unfall hielt. Er verachtete die Frau, die sie gewesen war, und Vivien konnte es ihm kaum verdenken, denn sie dachte genauso. Schlimmer noch: je länger er ermittelte, desto mehr Zeugen vernahm er, die Vivien in ihrem früheren Leben als Prostituierte gekannt hatten. Und was sie von Miss Duvall erzählten, war selten hilfreich und nie besonders erfreulich.
Dies ging Vivien durch den Kopf, als Mary sie an jenem Morgen anzog. Das Mädchen zog und zerrte von hinten an den Bändern des Samtkleides, sodass Vivien sich an der Lehne eines Stuhls festhielt um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ihr Knöchel war fast vollständig geheilt. Nur wenn sie zu lange stehen musste, spürte sie noch ein leichtes Stechen.
»Na bitte«, rief Mrs. Buttons zufrieden und trat einen Schritt zurück, um Vivien besser betrachten zu können. »Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet. Und genau Ihre Farbe.«
Etwas misstrauisch ging Vivien hinüber zu einem großen Spiegel und war überrascht als sie sich sah. Mrs. Buttons hatte Recht. Der tief kirschrote Samt verlieh ihrer Haut das zarte Leuchten von Porzellan und auch ihre roten Haare kamen sehr gut zur Geltung. Borten aus schwarzer Seite säumten die hochgeschlossene Halspartie. Auch die Linien zwischen Hals und Schlüsselbein waren mit derselben schwarzen Seide besetzt. Dass das Kleid ansonsten schlicht war, unterstrich den Effekt dieses Schmucks. Ein insgesamt sehr elegantes Kleidungsstück, das jeder Lady geschmeichelt hätte. Vivien atmete auf. Sie hatte endlich etwas zum Anziehen, das sie nicht gleich als leichtes Mädchen entlarvte.
Sie schenkte nacheinander Mary und Mrs. Buttons ein verschmitztes Lächeln. »So bin ich ja beinahe gesellschaftsfähig.«
»Wenn Sie mich jetzt noch Ihr Haar bürsten und hochstecken lassen, sind Sie von einer feinen Lady nicht mehr zu unterscheiden«, sagte Mary eifrig. »Oh, ich kann es kaum erwarten, dass Mr. Morgan Sie so sieht. Der wird Augen machen!«
»Danke, Mary« Vivien wollte sich an die Frisierkommode setzen, bückte sich aber auf dem Weg dorthin, um feuchte Handtücher aufzuheben, die sie vorher hatte fallen lassen.
»Nein, nein!«, rief das Hausmädchen aufgeregt und fiel fast vor Vivien auf die Knie, um ihr die Tücher aus der Hand zu nehmen. »Ich bitte Sie, das müssen Sie nicht tun, das habe ich Ihnen doch schon gesagt dafür bin ich doch da!«
Mit einer übertriebenen Geste ließ Vivien die umstrittenen Tücher fallen. »Ich glaube, das würde ich auch noch schaffen.«
»Aber es entspricht nicht Ihrem Stand! Bitte, Miss Duvall.« Mary schob Vivien in Richtung der Frisierkommode.
Mrs. Buttons hatte die ganze Szene mit einem freundlichen Lächeln mit angesehen, und als ihr und Viviens Blick sich jetzt im Spiegel trafen, sagte die Haushälterin: »Sie sind es anscheinend nicht gewohnt bedient zu werden.«
»Ich weiß nicht an was ich eigentlich gewohnt bin«, seufzte Vivien.
»Keiner Lady, die nicht vollständig den Verstand verloren hat würde es auch nur im Traum einfallen, ihren Bediensteten beim Aufräumen zu helfen.«
»Aber Mr. Morgan hat mir erzählt dass ich einen großen Hausstand mit Personal hatte. Ich muss daran gewöhnt sein, weil alle mir erzählen, ich sei eine so verwöhnte Kreatur gewesen, die nichts im Sinn hatte als …« Sie unterbrach sich verwirrt.
Mary hatte angefangen, Viviens feuerrotes Haar kräftig durchzubürsten. Während Mrs. Buttons sie dabei beobachtete, sagte sie: »Mir scheinen Sie durchaus nicht verwöhnt zu sein, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich gewisse Charaktereigenschaften dadurch verändern, dass man sein Gedächtnis verliert.« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber schließlich bin ich ja kein Arzt und es macht mir schon genug Schwierigkeiten, in meinem eigenen Kopf für Ordnung zu sorgen. Da kann ich mich nicht noch um die Köpfe anderer Menschen kümmern.«
Mary band Viviens Haar zu einem einfachen Dutt ließ aber ein paar Strähnen um ihren Nacken und ihre Ohren spielen. Derart frisch frisiert und neu eingekleidet fühlte sich Vivien so wohl, dass sie ein bisschen unternehmungslustig wurde und sich im Haus etwas umsehen wollte. »Ich würde es schon genießen, nur mal in einem anderen Raum als diesem hier zu sitzen. Gibt es unten nicht vielleicht einen Salon oder sogar eine kleine Bibliothek? Mr. Morgan
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