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Schicksalsfäden

Schicksalsfäden

Titel: Schicksalsfäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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denn weggelaufen?«
    »Pocken. In dem Jahr sind fast die Hälfte aller Kinder daran gestorben. Ich war nicht für ihn da, als er starb.
    Niemand war da bei ihm … niemand, der ihn liebte …«
    Vivien konnte nicht sprechen. Voller Mitgefühl sah sie ihn an, während sie gleichzeitig die Hände an ihre Oberschenkel presste, um nicht der Versuchung nachzugeben, ihn zu berühren.
    »Wenn ich früher gekommen wäre, hätte ich ihn retten können … ich weiß es, ich hätte …«
    »Nein, Grant!«, rief Vivien erschrocken. »Das dürfen Sie nicht einmal denken!«
    »Aber es ist wahr. Alles andere wäre Lüge vor sich selbst.«
    »Sie dürfen nicht ungerecht gegen sich sein«, versuchte Vivien ihn zu beschwichtigen.
    »Ich habe ihn im Stich gelassen«, sagte Grant tonlos. »Nur das zählt.« Er stand in einer langsamen und fließenden Bewegung auf und ging zum Kamin hinüber. Mit einem Schürhaken stocherte er gedankenverloren im Feuer herum.
    Auch Vivien stand auf und trat zu Grant, starrte auf seinen starken Rücken, seine breiten Schultern, den Feuerschein um seine Silhouette. Ihre Leidenschaft für ihn ließ sie ihre eigenen Probleme vollkommen vergessen.
    Nun kannte sie seine Geschichte. Er half anderen Menschen als Buße dafür, dass er seinem Bruder nicht geholfen hatte. Aber egal, wie viele Menschenleben er in seinem Beruf noch retten würde: Nie würde er sich diese eine Schuld vergeben können. Sie würde ihn ein Leben lang verfolgen, was er auch tat wohin er auch ging. Viviens Bewusstsein wurde von einem einzigen bohrenden Schmerz erfüllt: ihm helfen zu können. Aber sie war machtlos und dieses Wissen war kaum zu ertragen.
    Schließlich streckte sie langsam die Hand aus, berührte seine Schultern, verharrte dort einige Sekunden und wanderte dann seinen Nacken hoch.
    Bei ihrer Berührung schien sein ganzer Körper zu erstarren. Kantig drehte er sich von ihr weg, fast angeekelt sah er sie an und sagte: »Nein! Ich brauche kein Mitleid von einer …« Den Rest des Satzes schluckte er herunter. Aber das Unausgesprochene stand zwischen Vivien und Grant im Raum.
    Vivien wusste nur zu gut was Grant hatte sagen wollen, und es schmerzte sie zutiefst. Doch gleich zeitig fragte sie sich, warum er es nicht hatte aussprechen können. Was hatte ihn zurückgehalten? Fühlte er doch etwas für sie? Sie starrte ihn erschrocken und gleichzeitig neugierig an und eine künstliche Ruhe breitete sich in ihr aus. »Danke«, sagte sie dann mit brüchiger Stimme. »Danke, dass Sie es nicht ausgesprochen haben.«
    »Vivien«, sagte er grob, »ich …«
    »Ich hätte Sie nicht so ausfragen sollen. Das sind persönliche Dinge, die mich nichts angehen«, sagte sie mit dem letzten Rest Würde, den sie in sich finden konnte. »Ich bin sehr müde und werde mich jetzt zurückziehen. Sie werden mich entschuldigen, Mr. Morgan.«
    Sie spürte, dass er noch etwas sagen wollte, konnte aber nicht darauf warten, stieß die Tür auf, floh aus der Bibliothek und ließ ihn in der Hitze des Kaminfeuers stehen.
    Das Abendessen musste Vivien allein einnehmen, denn Grant hatte schon vorher das Haus verlassen. Sie fragte sich, was für Leute er wohl abends traf. Würde er allein in einem Pub sitzen und grübeln, oder würde er in einem Club am Spieltisch sitzen, lachen und trinken, mit einem leichten Mädchen auf seinem Schoß Scherze treiben? Für einen Mann wie ihn – halb Gentleman, halb geheimnisvoller Abenteurer – war es sicher kein Problem, eine Frau zur Zerstreuung zu finden. Zweifellos gab es viele Frauen aus allen Schichten in London, deren angeregte Träume sich um Mr. Grant Morgan rankten.
    Etwas bedrückte Vivien, als läge eine kalte, schwere Hand auf ihrer Brust die sie am Essen hinderte. Sie legte die Gabel weg und lehnte sich zurück. Nach einigen Sekunden stand sie auf und zog sich mit ein paar Büchern in ihr Zimmer zurück. Doch obwohl sie bis nach Mitternacht las, konnte sie nicht wie sonst in der Lektüre versinken, konnte sie sich nicht von den Problemen freimachen, die wie Geister über ihrem Bett zu schweben schienen.
    Immerhin hatte jemand versucht sie zu ermorden. Und sollte dieser jemand herausfinden, dass sie noch lebte, würde er es vielleicht wieder versuchen. Sie hatte zwar großes Vertrauen in Grants Fähigkeit als Runner – er würde den Täter schon finden –, aber sicher war auch Grant nicht unfehlbar. Und anstatt ihm zu helfen und ihm alle Informationen zu geben, die ihn bei der Lösung des Falles

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