Schicksalsfäden
waren Sie, als das passierte?«
»Neun oder zehn. Ich weiß es nicht mehr genau.«
»Was geschah dann?«
»Das Gefängnis war eine Brutstätte für Krankheiten. Meine Eltern und meine beiden Schwestern starben, nur mein kleiner Bruder und ich überlebten und kamen zur Gnädigen Jungfrau. Aber lange hab ich es da nicht ausgehalten.
Schon nach einem Jahr wurde ich wegen ›aufsässigem Verhalten‹ rausgeworfen.«
All das erzählte Morgan mit ausdrucksloser Stimme, fast unbeteiligt, als würde er über einen Fremden reden. Doch spürte Vivien hinter der Fassade deutlich den Schmerz der Erinnerung.
»Aufsässig?«, wiederholte sie.
»Mein Bruder war recht klein gewachsen für sein Alter und er war nicht besonders hart im Nehmen. Ein willkommenes Opfer für die anderen Jungen.«
»Sie haben ihn also nur verteidigt?«
Er nickte knapp. »Nach einer besonders heftigen Schlägerei musste ich mal wieder zum Direktor. Der hielt mir mein Zeugnis vor, das voll war mit Worten wie ›gewaltbereit‹ und ›jähzornig‹ und ›unverbesserlich‹. Man entschied dann, mich zu einem abschreckenden Beispiel für die anderen Kinder zu machen und mich rauszuwerfen.
Und so saß ich dann auf der Straße mit nichts als den Kleidern, die ich am Leib trug. Zwei Tage und Nächte hab ich an das Tor der Gnädigen Jungfrau gehämmert damit sie mich wieder rein lassen. Aber es gab keine Gnade. ich ahnte, was meinem kleinen Bruder Jack zustoßen würde, wenn ich ihm nicht beistehen konnte. Irgendwann kam dann ein Lehrer heraus und versprach mir, für meinen Bruder zu tun, was in seiner Macht stehe. Ich aber sollte verschwinden, und mich um mein Leben kümmern. Und das habe ich dann getan.«
Vivien hatte stumm und aufmerksam zugehört und versuchte sich nun Grant als kleinen, verängstigten Jungen vorzustellen, der alles, was ihm lieb war, verloren hatte und ganz auf sich gestellt war. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn er unter diesen Umständen kriminell geworden wäre, dachte sie. Und doch hatte er einen Weg gefunden, der Gesellschaft, die ihn so schlecht behandelt hatte, zu dienen. Sogar fast selbstlos, denn er verleugnete ja jeden guten Geist seiner Taten, behauptete, seine Arbeit nur des Geldes wegen zu machen. Was war das nur für ein Mann, der so dachte?
»Und warum wurden Sie dann ein Bow-Street-Runner?«
»Nun, das lag doch nahe. Wer selbst auf der Straße gelebt hat der weiß, wie Kriminelle denken. Ich bin aus demselben Holz geschnitzt wie sie.«
»Nein, das sind Sie nicht!«, widersprach Vivien ehrlich betroffen.
»Doch, das bin ich«, sagte Grant leise und mit gebeugtem Kopf. »Ich bin nur die andere Seite derselben gefälschten Münze.«
Danach herrschte bedrückende Stille im Raum. Vivien tat so, als würde sie einen Stapel Bücher ordnen, aber seine Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn. Sie wusste nun, woher seine scheinbare Unnahbarkeit seine Härte kam. Er hatte in seinem Leben nicht viel Güte und Herzenswärme erfahren und sich einen Panzer so hart wie Granit zugelegt. Der Wunsch, ihn in den Arm zu nehmen, ihm ein kleines bisschen dieser Wärme zu geben, wurde fast übermächtig in Vivien. Sie wollte, dass er seinen Kopf an ihre Schulter legte, sich auf sie stützte, sich von ihr streicheln ließ. Doch sie wusste, dass dies nur eine Wunschvorstellung war. Nie würde er sich von ihr trösten lassen, er würde sie verspotten, wenn sie ihn ihr Mitleid spüren lassen würde. Darum beschloss sie, dass es am klügsten war, das Thema nicht mehr anzusprechen. Aber dann rutschte ihr doch noch eine Frage heraus: »Wo ist Ihr Bruder jetzt?«
Morgan antwortete nicht er schien mit den Gedanken woanders zu sein.
»Was ist mit Jack passiert?«, fragte Vivien noch einmal und kniete vor ihn hin.
In ihn kam Bewegung. Seine grünen Augen suchten ihre. Sie blickten sich an.
»Bitte sagen Sie es mir, Grant. Sie kennen meine dunkelsten Geheimnisse und können mir daher vertrauen.«
Da verdüsterte sich sein Blick. Aber er sprach noch immer nicht. Gerade als sie die Hoffnung schon aufgeben wollte, drangen seine krächzenden, unsicheren, fast unverständlichen Worte an ihr Ohr. »Ich hatte für Jack eine Arbeit am Hafen als Fischwäscher gefunden und wollte ihn holen. Ich war damals schon vierzehn und wusste, dass sie ihn gehen lassen würden, wenn ein älterer Verwandter für den Lebensunterhalt sorgen konnte. Aber als ich ins Waisenhaus ging, sagte man mir dort dass er nicht mehr da sei.«
»Nicht mehr da? Was heißt das? Ist er
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