Schicksalsfäden
einen Schlüssel entnahm und damit die Tür entriegelte, stieg bei Vivien die Spannung.
Mit vorsichtigen, fast ängstlichen Schritten trat sie in die dunkle Halle und blieb misstrauisch stehen, bis Morgan um sie herum ein paar Leuchten angezündet hatte. Erst dann sah sie, wie schön alles war. Die Wände waren mit französischen Stoffbahnen behängt, die Möbel offensichtlich Louis XV., alles sehr delikat und feminin – aber ihr gänzlich fremd. Sie nahm langsam ihren Hut ab und legte ihn auf den Knauf am Ende des Treppengeländers.
Langsam ging Vivien im Raum herum, vorbei an einem Kristallspiegel und an dem vergoldeten Tischchen mit Marmorplatte, von dem sie eine kleine Porzellanfigurengruppe nahm und einige Sekunden betrachtete. Sie stellte einen jungen Mann und eine junge Frau dar, die sich angeregt unterhielten, während die Dame sich bückte, um ein zartes Blümchen zu pflücken. Eine unschuldige und dabei sehr charmante Szene, dachte Vivien. Erst als sie das Stück wieder hinstellen wollte, bemerkte sie, dass der junge Mann seine Hand tief unter den Rock der sich bückenden jungen Frau geschoben hatte. Verwirrt hielt sie inne, stellte dann die Figuren hin und zog die Hand so schnell zurück, als hätte sie sich verbrannt. Sie bemerkte, dass Morgan sie mit einer Mischung aus Heiterkeit und Ratlosigkeit anblickte.
»Und? Erkennen Sie etwas wieder?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und ging auf die Treppe zu. Morgan folgte, ihr holte sie ein und beleuchtete mit seiner Lampe die Stufen vor ihnen. Die flackernde Flamme warf geisterhafte Schatten auf die Wände um sie herum. Im ersten Stock angekommen, blickte sich Vivien zögernd um, als fragte sie sich, wohin sie gehen sollten.
Grant deutete nach rechts. »Ihr Schlafzimmer istt hier drüben«, sagte er und zog sie sanft am Ellbogen. Im Licht der Lampe erkannte Vivien beim Eintreten die grüne Seidentapete an den Wänden, dann das reich geschnitzte Bett auf einer kleinen Empore. Es machte den Eindruck einer Bühne, auf der gerade kein Stück aufgeführt wurde.
Vivien schien verwirrt und unangenehm berührt. Sie bewegte sich nicht bis Morgan mehr Leuchten angezündet hatte und der Raum mit allen Einzelheiten besser zu erkennen war. Dann drehte sie sich um und sah das Bild.
Für Sekunden sah sie nur unanständig viel Haut und Fleisch, kunstvoll, aber eben doch unanständig. Es dauerte noch einmal mehrere Augenblicke, bis ihr klar wurde, wer auf dem Bild dargestellt war. Vivien erstarrte.
»Das bin ja ich«, wisperte sie atemlos, hektische rote Flecken zeigten sich auf ihrem Gesicht. Heftig nach Luft schnappend wirbelte sie herum, schloss die Augen und legte die Hände davor.
»Ich nehme an, Sie können sich nicht mehr daran erinnern, unter welchen Umständen das Bild entstanden ist hab ich Recht?« In Morgans Stimme lag leichter Spott. Vivien bemerkte ihn, aber in diesem Moment konnte sie ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Sie schämte sich zu sehr und war vor allem wütend auf sich selbst. Eigentlich hatte sie noch bis zu diesem Augenblick gehofft, dass sie vielleicht doch keine schamlose Person, keine Prostituierte war. Jetzt stand die Wahrheit vor ihr, mit goldenem Rahmen und bis ins kleinste Detail.
»Wie konnte ich nur … Wie kann nur irgendwer für so etwas Modell stehen«, ächzte sie mit vor das Gesicht geschlagenen Händen.
»Nun, viele Künstler arbeiten mit Nacktmodellen. Das sollten Sie doch wissen.«
»Dieses Bild sollte offensichtlich den Betrachter nicht kulturell erheben«, sagte Vivien voller Verachtung.
»Aber zumindest ›erhebt‹ es etwas im männlichen Betrachter, glauben Sie nicht?«, sagte Grant mit gespielter Unschuld.
Vivien ließ die Hände an den Körper sinken, zu Fäusten der Verzweiflung geballt. Sie konnte sich nicht erinnern, in ihrem Leben jemals so gedemütigt worden zu sein. Das Blut pochte ihr in den Schläfen und die Unterarme wurden taub. »Nehmen Sie es weg, Morgan! Hören Sie? Nehmen Sie es weg oder hängen Sie etwas darüber!«, keuchte sie am Rande ihrer Beherrschung.
Erst jetzt schien Morgan ihre Stimmung zu begreifen. Er wurde ernst und blickte Vivien an. »Wegen mir müssen Sie sich nicht schämen. Ich habe das Bild schon einmal gesehen, wissen Sie?«
Es war lächerlich, aber sie konnte es nicht ertragen, dass sie beide dieses Bild gleichzeitig betrachte ten. Sie kam sich selbst nackt vor, als hätte ihr, der Betrachterin, jemand die Kleider vom Leib gerissen. »Ich kann hier nicht bleiben, wenn
Weitere Kostenlose Bücher