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Schicksalsfäden

Schicksalsfäden

Titel: Schicksalsfäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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Er musste die Augen schließen und die Faust ballen. Sein Kinn zuckte unkontrolliert. Schließlich öffnete er nach langen Sekunden des Schweigens die Augen und sagte mit rauer Stimme:
    »Wir sollten nun gehen. Dr. Linley erwartet uns schon.«
    Eigentlich lag Dr. Linleys großes Haus nur wenige Gehminuten von Grants entfernt, trotzdem hatte dieser eine Droschke beordert. Die unangenehme Fahrt, über der drückendes Schweigen lastete, war immerhin kurz. Immer wieder hatte Vivien dem großen gereizten Mann ihr gegenüber kurze Blicke zugeworfen. Grant wirkte niedergeschlagen und aggressiv zugleich. Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten mit jemandem geprügelt. Aber da war ja niemand, mit dem er sich hätte prügeln können.
    Wahrscheinlich ging ihm immer noch die Diskussion am Morgen durch den Kopf, dachte Vivien. Und sie hoffte, dass er sich ihre Argumente noch mal durch den Kopf gehen ließ, vielleicht gar zur Einsicht kam. Sollte sie etwas Ermutigendes sagen? Nein, er musste diese Sache mit sich selbst ausmachen, beschloss sie.
    Schließlich erreichten sie Linleys Haus, eine dieser Residenzen die mit klassizistischen Säulen verziert waren.
    Grant öffnete den Wagenverschlag selbst und hielt Vivien die Hand hin. Sie nahm sie gnädig nach kurzem Zögern und stieg aus. Schon nach dem ersten Läuten kam der Butler an die Tür und bat sie herein. In der kleinen, aber geschmackvoll mit Eichenholzregalen eingerichteten Bibliothek wurden sie bereits von Dr. Linley erwartet.
    Er stand auf und kam ihnen entgegen. Nach der etwas steifen Begrüßung bot er Vivien einen Sessel am Kamin an.
    Dann stand er vor ihr, strich sich eine blonde Locke aus der Stirn und fragte: »Miss Duvall, ich freue mich, Sie zu sehen, aber ich hoffe, der Anlass Ihres Besuchs bedeutet nicht eine erneute Verschlechterung Ihres Zustandes?«
    Vivien wollte gerade antworten, als ihr der eigentliche Zweck ihres Besuches ins Gedächtnis zurückkam und sie spürte, wie ihr deshalb das Blut ins Gesicht schoss. Immerhin waren sie gekommen, um Erklärungen für ihre überraschende Jungfräulichkeit zu erhalten. Wie hatte sie nur in eine solche würdelose Lage kommen können, fragte sie sich.
    Immer noch auf eine Antwort wartend, stand Linley mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck vor ihr. Nach einigen Sekunden drehte er sich zu Grant um, der jedoch keinen Ton von sich gab. Linley wurde ungeduldig. »Nun, immerhin musste ich zwei andere Termine wegen Ihres Besuchs absagen und wäre deshalb dankbar, wenn ich die Dringlichkeit Ihrer Visite erfahren dürfte.«
    »Es gibt interessante neue Entwicklungen im Fall Vivien Duvall«, sagte Grant tonlos. Er stand lässig an einen schweren Eichentisch gelehnt. »Um offene Fragen zu klären, will ich die Krankenakte von Vivien Duvall sehen.
    Ich kann nur hoffen, dass sie sorgfältig geführt wurde und lückenlos ist.«
    »Diese Akte ist nur für die Augen von Patient und Arzt bestimmt«, sagte Linley in scharfem Ton.
    »Sie enthalten außerdem wichtige Indizien in einem Gewaltverbrechen«, gab Grant ebenso scharf zurück. Einige Sekunden herrschte Stille, und als Grant sie wieder brach, klang er weniger selbstsicher. »Also bitte, Linley, sagen Sie mir, ob Miss Duvall, als Sie sie das letzte Mal untersuchten, noch jungfräulich war …«
    Empört über die Frage und mit weit aufgerissenen Augen sah Dr. Linley von Grant zu Vivien und wieder zu Grant.
    »Mit Sicherheit nicht!«, rief er aus und schob wieder die störrische Locke aus der Stirn.
    »Wie erklären Sie sich dann, dass sie«, er wies auf Vivien, »bis letzte Nacht noch Jungfrau war?«
    Wieder legte sich Stille über den Raum. Dr. Linley sah Grant mit zusammengekniffenen Augen an. »Und Sie sind sich da ganz sicher?«, fragte er, nacheinander beide anblickend.
    Vivien errötete und drehte ihr Gesicht zum Kamin hin.
    »Man muss kein Arzt sein, um das zu erkennen, Linley«, sagte Grant.
    Dr. Linley atmete tief durch. »Dann handelt es sich bei dieser Dame hier nicht um die Frau, die ich seinerzeit untersuchte. Vivien Duvall war damals schwanger. In einem frühen Stadium zwar, aber sie war ohne jeden Zweifel schwanger. Als ich später diese junge Dame hier in Ihrem Haus untersuchte, dachte ich, sie hätte entweder durch die ganze Aufregung eine Fehlgeburt erlitten oder das Kind wegmachen lassen. Aber dies wäre eine moralische Frage, keine ärztliche. Ich hatte mich also nicht darum zu kümmern. Ich habe selbstverständlich auch nicht ihre Jungfräulichkeit

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