Schicksalsfäden
habe ich eine Puppe in meiner Schublade, an der die Patientin mir zeigen kann, wo der Schuh drückt. Das sind erwachsene, vollständig bekleidete, verheiratete Frauen, wohlgemerkt. Häufig ist das natürlich reine Koketterie, aber es gibt auch viele Menschen, die einfach nicht wissen, wie sie mit ihrem eigenen Körper und dessen Bedürfnissen umgehen sollen, die auch Angst vor Sexualität haben.«
»Vivien ist zum Glück nicht so.«
»Da haben Sie sicher Recht Morgan. Aber auch sie hat vielleicht ihre Ängste. Ängste, die nur Sie oder der Mann, der nach Ihnen kommt wirklich verstehen können.«
»Unsinn! Es wird keinen Mann nach mir geben!«, brach es überraschend heftig aus Grant heraus. »Ich bin der einzige Mann in ihrem Leben! Ich bin ihr Mann fürs Leben!«
»Wenn das so ist, interessiert es Sie sicher, dass für viele Frauen das zweite Mal wichtiger ist als das erste Mal. Es bestätigt entweder ihre Ängste oder zeigt ihnen, wie schön es sein kann. Meiner Erfahrung nach gibt es nur sehr wenige Frauen, die von Natur aus unnahbar oder frigide sind. Die meisten dieser Frauen werden von ihren Ehemännern oder Liebhabern misshandelt. Auch sexuell.«
»Linley, Sie können mir glauben, ich weiß, wie man einer Frau Vergnügen bereitet oder wollen Sie mir jetzt auch noch Ratschläge aus Ihrem sicher erstaunlichen Liebesleben mit auf den Weg geben?«
Da lachte der Doktor auf. »Lieber nicht Morgan, ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten!«
Zurück in der Bibliothek trafen die beiden Vivien dabei, wie sie die Regalreihen abschritt einzelne Bücher herausnahm, durchblätterte und wieder zurückstellte. Als sie eintraten, warf Vivien Grant einen vorsichtig freundlichen Blick zu. Er wirkte ernst und verschlossen.
Währenddessen hatte Linley seinen Aktenschrank aufgeschlossen und suchte nun nach der Akte von Vivien Duvall.
»Na also, hier ist sie ja«, murmelte er, als er sie gefunden hatte.
Er schloss den Schrank und kam mit den Papieren zu Grant und Vivien hinüber.
»Sehen Sie«, sagte er zu dem aufgeregten Grant »hier ist nichts Ungewöhnliches, außer …« Bei der schnellen Durchsicht der Unterlagen war ein kleiner Umschlag aus dem Stoß auf den Boden gefallen. Grant bückte sich sofort und hob ihn auf. Der Umschlag war versiegelt und an ›V. Devane, White Rose Cottage, Fores’t Crest in Surrey‹ adressiert.
»Was ist denn das?«, fragte Grant.
Neben ihm stand stumm Vivien. Sie starrte auf den Umschlag, las die Adresse und spürte, wie die Worte etwas in ihrer Erinnerung berührten. Sie kamen ihr vertraut vor. Sie öffnete die Lippen und formte die Worte nach, wieder und wieder.
»Also, Linley«, sagte Grant »wissen Sie, woher das kommt?«
Dr. Linley schien plötzlich peinlich berührt. »O je, das hatte ich ganz vergessen. Das hat Miss Duvall hier gelassen an dem Tag, an dem ich ihre Schwangerschaft festgestellt habe. Ich habe Ihnen ja erzählt dass sie ziemlich niedergeschlagen war von meiner Diagnose. Als sie ging, war sie sehr nervös und hat ihre Tasche fallen lassen und alles war auf dem Boden zerstreut. Den Brief muss sie beim Einsammeln übersehen haben, jedenfalls hab ich ihn später am selben Tag gefunden und zu den Akten gelegt. Ich wollte ihr den Brief bei ihrem nächsten Besuch wiedergeben, aber sie ist nicht mehr gekommen.«
»Und Ihnen ist nie in den Sinn gekommen, dass der Brief vielleicht wichtig sein könnte?«, fragte Grant vorwurfsvoll.
»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Morgan, und habe anderes zu tun, als mich um die Privatkorrespondenz meiner Patienten zu kümmern. Und jetzt können Sie mir weiter Vorhaltungen machen oder endlich diesen vermaledeiten Brief öffnen.«
Aber Vivien hatte Grant den Brief schon aus der Hand genommen und das Siegel erbrochen. Sie zog ein Blatt Papier aus dem Umschlag, entfaltete es und sah einige handgeschriebene Zeilen, die aussahen, als seien sie in großer Eile geschrieben worden.
Bitte, komm nicht in die Stadt. Ich habe hier zwar ein paar Unannehmlichkeiten, aber damit komme ich schon zurecht. Wenn ich die Dinge geregelt habe, mache ich mich sofort auf den Weg nach Surrey. Wir werden uns schon sehr bald wiedersehen, mach dir keine Sorgen.
Vivien Grant hatte über ihre Schulter mitgelesen, aber Vivien hatte dies gar nicht bemerkt.
Sie starrte weiter auf den Brief und sagte dann leise, als würde sie mit sich selbst sprechen: »Ist das ein Brief an ihren Liebhaber?«
»Möglich.«
»Glaubst du denn, dass sie sich dort
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