Schicksalsfäden
Sekunden, dann klopfte er wieder, diesmal energischer und lauter.
Überrascht trat er einen Schritt zurück, als die Tür sich unvermittelt öffnete und ein Küchenmädchen mit einer weißen Haube den Kopf herausstreckte. »Sie wünschen, Sir?«, murmelte sie kaum hörbar.
»Ich wünsche mit der Dame des Hauses zu sprechen.«
»Das geht leider nicht, Sir, denn sie ist nicht da. Überhaupt niemand ist da, Sir, bitte gehen Sie jetzt wieder.«
Das Mädchen war keine besonders gute Lügnerin, musste Grant feststellen. Er war diese Art von Antworten gewohnt. Eigentlich war nie jemand zu Hause, wenn ein Bow-Street-Runner an eine Tür klopfte.
»Hol sie einfach, Mädchen!«, befahl Grant ungeduldig, aber nicht unfreundlich. »Ich habe nicht viel Zeit und noch weniger Geduld.«
Das Mädchen errötete und senkte den Blick, aber es wich nicht. »Bitte, Sir«, flehte sie fast »es ist niemand da, so gehen Sie doch bitte, Sir.«
Bevor Grant darauf etwas erwidern konnte, ertönte vom Raum hinter der Tür eine kühle, weiche Stimme: »Schon gut Jane. Ich mach das schon, vielleicht geht er dann wieder.«
In diesem Augenblick gab Grant der Tür einen Stoß, dass sie aufflog. Vor ihm stand eine Frau in einem Musselinkleid, das vor ihrem geschwollenen Bauch stark spannte.
In ihrer Hand hielt sie eine Pistole mit gespanntem Hahn. Sie wollte sie gerade auf den ungebetenen Besucher richten, als sie ihn erkannte: »Mein Gott!«, rief sie aus. »Bist du das, Morgan?«
»Vivien?«, sagte Grant ungläubig und fuhr dann in einem ironischen Ton fort: »Ich hoffe, es gibt nicht noch mehr von euch in England. Zwei genügen mir vollauf!«
Kapitel 14
Victoria. Endlich wusste Grant ihren Namen. So viele Male hatte er ihn sich auf dem Rückweg nach London vorgesagt: Victoria.
Sie waren tatsächlich Zwillinge. Vivien hatte dann irgendwann ihren Nachnamen in Duvall geändert, weil das besser zu ihrer steilen Karriere als Kurtisane zu passen schien. Victoria dagegen war mit ihrem Vater in Forest Crest geblieben.
Das kleine Cottage war ärmlich, aber gemütlich gewesen. jedes Zimmer war vollgestopft mit Büchern, jedes, das Grant aufgeschlagen hatte, war auf der ersten Seite mit Victorias Namen versehen. Grant und Vivien hatten sich an diesem Nachmittag lange unterhalten. Sie hatte ihm viel erzählt, aber noch immer schien es Grant unglaublich, dass zwei Menschen, wie Vivien und Victoria, sich äußerlich so ähnlich und doch so vollkommen verschiedene Menschen sein konnten: Victoria entsprach ganz dem Bild einer unschuldigen jungen Frau vom Lande. Sie las, lehrte die Dorfkinder lesen und schreiben und sammelte Kräuter auf den üppigen Wiesen der Umgebung. Vivien dagegen liebte das laute Leben der Großstadt, war egoistisch und hatte zweifelhafte Vorstellungen von Moral.
Grant erinnerte sich besonders an einen Moment während ihres Gesprächs. Er hatte ihr vorgeworfen, ihre Schwester Victoria als Opfer nach London gelockt zu haben, um von sich selbst abzulenken.
»Du hast sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen, damit du selbst vor der Meute flüchten konntest. Und das hat ja auch funktioniert. Deine Verfolger dachten, Victoria sei Vivien und du konntest dich in aller Ruhe hierher zurückziehen und so tun, als seist du Victoria.«
Vivien hatte seiner Anklage still gelauscht, aber ihr Gesicht zuckte nervös und wütend. Als sie antwortete, klang ihre Stimme wie das Fauchen einer Katze. ,›Das ist nicht wahr! Ich bin nur hier geblieben, weil ich in meinem Zustand ja wohl schlecht nach meiner Schwester suchen konnte. Ich habe mir große Sorgen gemacht außerdem war ich mir sicher, dass sie wieder nach Forest Crest kommen würde, wenn sie erst mal festgestellt hätte, dass ich nicht mehr in London bin. Bevor du dein endgültiges Urteil über mich fällst interessiert es dich vielleicht dass ich Victoria eine Nachricht geschickt habe. Ich habe ihr geschrieben, dass sie nicht nach London kommen soll!«
»Du meinst wohl diese hier!«, hatte er verächtlich gesagt und das Stück Papier aus der Rocktasche gezogen.
Vivien hatte es ihm aus der Hand gerissen und überflogen. »Wo hast du das her?«
»Du hast es in Dr. Linleys Praxis verloren.«
»Das kann nicht sein«, hatte sie mit wachsender Verzweiflung gesagt. »Ich hab die Nachricht abgeschickt. Ich bin mir ganz sicher, dass ich … ich dachte …« Sie hatte ihre zitternden Finger an die Lippen gelegt und ihre Stimme war kaum noch hörbar gewesen. »Mein Gott, ich war überzeugt ich
Weitere Kostenlose Bücher