Schicksalspfade
Entsetzen wich er zurück.
Ein Mann saß in sich zusammengesunken auf dem Stuhl, auf Neelix’ Stuhl. Fesseln hinderten ihn daran, auf den Boden zu sinken.
Sein Gesicht – wenn man überhaupt noch von einem Gesicht sprechen konnte – war eine purpurne, breiige Masse. Es hatte sich in eine groteske Maske verwandelt, vergleichbar mit denen, die Kinder am Tag der Geister verwendeten. Die Augen waren zugeschwollen, ließen sich kaum mehr erkennen.
Jemand hatte den Mann auf erbarmungslose Weise
geschlagen.
Wie erstarrt stand Neelix an der Tür und wusste nicht, was er unternehmen sollte. Es widerstrebte ihm, sich der Monstrosität weiter zu nähern, aber er fühlte sich verpflichtet festzustellen, ob der Mann noch lebte.
Er hoffte, dass das nicht der Fall war.
Neelix zwang sich zu einer Ruhe, die er nicht empfand, trat auf den Mann zu und sah, dass sich seine Brust kaum merklich hob und senkte. Er lebte.
Und dann machte Neelix eine weitere, noch grauenvollere Entdeckung – er fand die Ursache für den Brandgeruch.
Der Mann hatte nicht nur schreckliche Prügel einstecken müssen. Teile seines Körpers waren verbrannt und verkohlt: Füße, Fußknöchel, Beine… Von unten nach oben. Jemand
hatte den Gefesselten auf geradezu unvorstellbar grausame Weise gequält. Neelix erbebte am ganzen Leib und für einige Sekunden befürchtete er, sich übergeben zu müssen. Der Geruch wurde immer stärker, stieg ihm in die Nase und schien die Lungen zu lähmen, sodass er nicht mehr atmen konnte.
Er gewann den Eindruck, dass Stunden vergingen, während er völlig reglos dastand und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Schließlich schnappte er nach Luft, als er feststellte, dass der Mann die Augen geöffnet hatte und ihn ansah.
»Ich… ich… ich bringe Sie hier raus«, brachte Neelix hervor.
Er hatte es gar nicht sagen wollen – die Worte kamen ihm von ganz allein über die Lippen.
Ein kratzender Laut entrang sich der Kehle des Gefesselten, doch Neelix hatte nicht die geringste Ahnung, was der Fremde zu sagen versuchte. Er wollte auch nicht näher treten, um ihn besser zu verstehen.
Der Mann krächzte erneut und es klang drängender als zuvor.
»Was? Ich verstehe Sie nicht…«, sagte Neelix. Er überlegte, wie er den Verletzten zum Schweber bringen sollte.
Angesichts der verbrannten Beine konnte der Mann bestimmt nicht gehen und er war zu schwer, als dass Neelix ihn hätte tragen können. Wie ließ sich die versprochene Rettung bewerkstelligen?
Der Gefesselte flüsterte heiser, bewegte dabei Lippen, auf denen geronnenes Blut Krusten bildete. Entsetzt beobachtete Neelix, wie sich kleine Splitter aus den Krusten lösten und zu Boden fielen, um sich dort mit dem Staub zu vereinen, der sich zu einer dicken Schicht angesammelt hatte. Noch drängender klangen die unverständlichen Worte und Neelix begriff, dass er sich dem schrecklich gepeinigten Mann nähern musste, um ihn zu verstehen.
Er zwang sich, einige Schritte nach vorn zu treten, beugte sich dann hinab und hielt das Ohr dicht an die blutigen, angeschwollenen Lippen. Diesmal vernahm er einzelne Worte.
»Sie… werden… dich… finden…«
Unvorstellbares Entsetzen dehnte sich in Neelix aus. Was bedeutete das? Wer mochte ihn finden? Und würden sie ihn ebenso behandeln wie diesen armen Mann? Er kämpft gegen die Panik an und sah in das grässliche Gesicht des Mannes.
»Allein kann ich Sie nicht nach draußen bringen. Ich hole Hilfe und verspreche Ihnen, so schnell wie möglich
zurückzukehren.«
Er bekam keine Antwort. Das Kinn des Mannes war wieder auf die Brust gesunken – die wenigen Worte schienen ihn die letzten Reste von Kraft gekostet zu haben.
Neelix wich zur Tür zurück und eilte dann über die Lichtung zu seinem Schweber. Später, als er das Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald lenkte, fragte er sich, ob es besser gewesen wäre, die Spuren seines Besuchs zu beseitigen.
Er hatte nicht einmal die Tür geschlossen. Dann fiel ihm ein: Vielleicht hatte sich jemand im Wald versteckt und beobachtet, wie er die Hütte betrat und sie kurze Zeit später wieder verließ.
Jemand, der ihn identifizieren konnte.
Neelix schüttelte diese schrecklichen Empfindungen ab, raste nach Hause und rief nach seinem Vater. Kaum eine Stunde später waren sie zusammen mit dem freundlichen Tixil und einigen weiteren Männern vom Zivilschutz in einem offiziellen Fahrzeug unterwegs durch den Wald. Es spielte keine Rolle mehr für Neelix, dass
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