Schiff der tausend Träume
hätte von mir stammen können«, hatte sie erwidert und die Arme verschränkt. Er hatte auf sie herabgesehen und gelacht.
»Das mag ich an dir, jede Menge nordenglische Wut. Roddy und Ella sind feine Exemplare, du kannst stolz auf deine Tochter sein. Du siehst auch nicht schlecht aus, wenn man auf drahtige, streitlustige Typen steht.«
»Soll das ein Kompliment sein, Sir?«, hatte sie gespöttelt.
»Wie du willst, aber sei so gut, und lass mich in Ruhe, wenn ich schlechtgelaunt bin.«
Sie genossen ihre Wortgefechte, sie neckten sich, sie pflegten ihren schwarzen Humor. Es war eine merkwürdige Art Freundschaft, die May manchmal so aufwühlte, dass sie sich mehr wünschte.
Seit ihrer Rückkehr nach Red House war über ein Jahr vergangen, und sie konnte Selwyn nicht begreifen. Mal ging er auf Abstand, dann wieder war er gesprächig, als vertraute er ihr, dass sie seine Geheimnisse bewahrte. Der Krieg hatte in so vielen Leben Schaden angerichtet. Wäre Joe in England geblieben, dann hätte er sich als einer der Ersten freiwillig gemeldet, da war sie sich sicher. Vielleicht wäre er inzwischen lediglich ein Name auf einer Messingtafel an einem Kriegerdenkmal.
Selwyn hatte überlebt, und ein Teil von ihm wünschte, es wäre nicht so. Das sprach er nie aus – wie sollte er auch? Aber sie kannte sich aus mit Dingen, die nicht gesagt wurden, sie verstand seine Gefühle nur zu gut, und das verlieh ihr die Geduld und den Mut, in die Kneipe zu stürmen und ihn aufzuscheuchen, wenn sie den Einkauf erledigt hatte. Er fügte sich immer, lüpfte den Hut wie der Gentleman, der er war, und torkelte auf sie zu, voll wie eine Haubitze. »Da ist sie, auf dem Kriegspfad, meine Adjutantin … was würde ich nur ohne sie anfangen …?«
May unterdrückte ein Lächeln, aber wenn er mit seinen Witzen herausrückte, wünschte sie sich, sie könnte ihn mit einem eigenen zur Strecke bringen. Er vermochte gut mit Wörtern umzugehen, war gebildet, und sie konnte nicht mithalten.
Die Fahrt nach Hause glich einem Schlingerkurs. Wie immer trug er ihre Einkäufe in die Küche, während sie ihm eine Tasse starken Kaffee aufbrühte, und manchmal war das bis zur nächsten Woche alles, was sie miteinander sprachen. May wusste, es war besser so, als zu versuchen, ihn zu mehr Anteilnahme an ihrem Leben zu bringen. Solche Träume verbot sie sich sofort.
Sie nahm ihr Tablett mit ins Wohnzimmer, das früher einmal der Frühstücksraum gewesen war, sonnig am Morgen und behaglich am Abend, in dem sie ihre Klöppelarbeit ungestört liegen lassen konnte.
Celeste war auf der Jagd nach einer neuen Arbeit. »Jetzt, da Roddy untergebracht ist, wird es Zeit, dass ich mir eine Stelle außer Haus besorge. Ich kann Haus und Garten deinen fähigen Händen überlassen, und Mrs Allen erledigt das Grobe. Ich muss meinen Beitrag leisten, um dieses Schiff über Wasser zu halten.« Das war alles sehr rätselhaft.
May musste zugeben, dass sie gern die Verantwortung trug. Sie hatte den Garten wieder auf Vordermann gebracht, die Blumenbeete neu angelegt und sich selbst ein schattiges Eckchen geschaffen, in dem sie las, wenn es heiß war. Ihr Zusammenbruch schien lange her zu sein, aber es gab noch immer Nächte, in denen sie nicht schlafen konnte und die panische Angst wieder aufstieg.
Ella wuchs schnell heran, sie hatte eine Mähne aus glänzendem schwarzen Haar und feine Gesichtszüge, so ganz anders als May. Umgeben von Freundinnen in der Schule, nahm sie an allem teil, zu dem sie eingeladen wurde, und hatte inzwischen einen ganzen Schuppen voll mit ihren Modellen und Kunstwerken. Woher kam dieser künstlerische Zug? Etwas, das sie wohl nie erfahren würden, aber es trieb May in den frühen Morgenstunden um.
Wie kann ich sie weiter anlügen und mit Halbwahrheiten abspeisen? Sie gab sich selbst die Antwort: Weil du es musst. Beruhige dich einfach und schlaf weiter. Du willst doch nicht wieder im St. Matthew’s landen. Reite nicht immer auf Dingen herum, die du nicht ändern kannst. Die Zeit, den Mund aufzumachen, ist längst vorbei. Wer würde dir deine Geschichte denn jetzt noch abnehmen?
70
Das sommerliche Gartenfest auf dem Rasen des Theologischen Kollegs war ein jährliches Ereignis und ein Höhepunkt im Kathedralenhof. In diesem Jahr holte Celeste ihr neues, cremefarbenes Baumwollkleid hervor, das mit Spitzenbesatz an Ärmelaufschlägen und Saum verziert war. Der Nachmittag war zu schön, um sich nicht feinzumachen und mit der neuen, kürzeren Mode
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