Schiff der tausend Träume
sein Vater werden und einen Erben erwarten könnte, musste er lachen. Sein Leben gefiel ihm, so wie es war – nach Osten in Richtung Meer fahren oder über die Berge nach Virginia, nach Süden oder Westen … wo auch immer er eine Fracht ausliefern und mit einer neuen zurückkehren konnte. Er fuhr über holprige Straßen und kannte die Müdigkeit langer Fahrten, doch er hatte immer eine Isolierkanne mit Kaffee dabei. Er aß in Straßenlokalen, lernte dort andere Fahrer kennen und konnte sich so einen guten Überblick über die Konkurrenz verschaffen.
Seit jener schicksalhaften Nacht, als er bei Will geklingelt und um ein Bett für die Nacht gebeten hatte, hatte er nur noch in die Zukunft geschaut, ohne sich je zu fragen, was hätte sein können. Jetzt war er sein eigener Herr, ein König der Straße, ein Zugvogel, einer, der – falls nötig – selbst alle Aufgaben übernehmen konnte, mit denen er seine Männer beauftragte. Er war kräftig geworden – stämmig, wie seine Großmutter sagte, wenn sie ihn besorgt ansah. Seine Privatschulmanieren hatte er abgelegt. In diesem Geschäft kämpfte jeder gegen jeden. An Weihnachten lag ihm nicht viel. Bei Effie Miller oder Wills Eltern bekäme er sicher ein Stück Braten. Nach Lichfield hatte er ein paar Geschenke aufgegeben und sogar pelzgefütterte Handschuhe für Ella und die alte Zugehfrau Mrs Allen gefunden.
Als er in einem Lokal an der Durchgangsstraße hockte und übers Radio den anrührenden Klang der Weihnachtslieder hörte, überkam ihn plötzlich Sehnsucht nach Lichfield. Er dachte an die Kathedrale im Kerzenschein, den mit Efeu und Stechpalmen geschmückten Esstisch zu Hause, an Mays Plumpudding, in dem er immer nach den versteckten Silbermünzen gesucht hatte, an die Knallbonbons mit den albernen Hüten darin, an ihr Charadespiel, das Singen am Klavier und an den strammen Spaziergang am Weihnachtstag über die Felder von Staffordshire.
Diese Welt lag weit entfernt, und er war nun ein Mann, der Männerarbeit tat. Auch wenn er oft einsam und die Arbeit schwer, ermüdend und unvorhersehbar war, hatte er sich doch dafür entschieden, und es gab kein Zurück.
Weihnachten war nur ein Datum im Kalender, ein Arbeitstag wie jeder andere. Und dennoch wünschte ein Teil von ihm, er könnte zurück nach Hause fahren … Doch wie könnte es ihm nach all den Jahren ein Zuhause sein?
93
Frankie Bartolini liebte die Mitternachtsmesse zu Weihnachten: die Kerzen, das andächtige Staunen der Gemeinde über die Krippe mit den Heiligen Drei Königen. Als Ministrant in weißer Robe kam er sich wichtig vor, etwas Besonderes, und er hielt stolz die hohen Kerzen, während ein Priester feierlich die Messe zelebrierte.
Draußen schneite es in dicken Flocken, wie auf einer Weihnachtspostkarte. Er sah seine Mutter mit ihrem besten Hut, ihr Haar war an den Schläfen bereits ein wenig grau geworden. Patti sah sich ungeduldig nach ihren Freundinnen um, nur Jack war nirgends zu entdecken, was jedoch nicht weiter überraschte. Er ging nie in die Kirche.
Es war ihr erstes Weihnachtsfest ohne ihren Vater. Alle machten ein tapferes Gesicht und überspielten, dass seine Abwesenheit eine große Lücke in ihrem Familienleben hinterließ. Papa hatte sich riesig gefreut, dass er nach Italien reisen durfte, und schon einige Postkarten geschickt, doch mittlerweile war er bereits einen Monat fort, und Mamma vermisste ihn sehr.
Geld für Süßigkeiten oder Geschenke war in diesem Jahr nicht übrig gewesen. Arbeit war schwer zu finden, und Mamma brauchte jeden Penny, aber bald gäbe es ein Maul weniger zu stopfen. Frankie ging ins Seminar, um seiner Berufung zu folgen. Zuerst war er sich vorgekommen wie ein Deserteur – bis er Mammas stolzes Gesicht gesehen hatte.
»Du bist auf diese Welt gekommen, um Gott zu dienen, wie Samuel, Hannahs Sohn, der in der Nacht die Stimme hörte, die ihn rief. Wir kommen schon zurecht. Pattis Tanzaufführungen bringen ein wenig ein, und dein Papa wird bald wieder zu Hause sein, also komm ja nicht auf die Idee, die Sache mit dem Priesterseminar aufzugeben. Wir werden im neuen Jahr ganz neu anfangen.« Seine Mutter lehnte sich zurück und blickte träumerisch zu einem der Fenster. » Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, seit dein Papa und ich uns in der St. Patrick’s-Kirche begegnet sind. Wir sind durch unsere Trauer zusammengeführt worden und haben zusammen neues Glück gefunden. Wer weiß schon, was die Zukunft sonst noch für uns bereithält?
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