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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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entschuldigen konnte, um kurz hinauszuschlüpfen und sie an sich zu drücken. Ella heulte dann immer, wenn May sie absetzte, und May hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie ging, doch sie wusste, dass sie in jedem Fall ihre Arbeit tun musste. Sie mussten leben.
    Ella konnte jetzt laufen, fing an zu brabbeln und gedieh an der Luft von Staffordshire prächtig. Ihre Locken hüpften unter ihrem Häubchen, und ihr wurde sehr viel Aufmerksamkeit zuteil mit ihren rabenschwarzen Augen, die immer funkelten. Sie war ein sehr freundliches Kind. May fragte sich, ob ihr leibliches Kind auch derart viel Zuwendung erfahren hätte.
    Kein Tag verging, an dem sie sich nicht nach ihrem eigenen Kind sehnte. Sie dachte daran, wie sie immer durch den Queens Park gegangen waren und die Kindermädchen mit ihren schicken Kinderwagen beobachtet hatten, oder wie sie mit der Straßenbahn hinaus aufs Land zur Barrow Bridge gefahren waren und mit Eistüten im Gras gesessen hatten. Ihr Glück war von kurzer Dauer gewesen. Aber sie musste den Schmerz ihrer nächtlichen Träume still ertragen, in denen sie das Gesicht ihrer Kleinen vor sich sah, die auf den Wellen abdriftete und aus ihrer Reichweite entschwand. Einmal, als sie schreiend aufwachte, stand Ella in ihrem Kinderbett und starrte sie mit ihren großen schwarzen Augen voller Tränen an.
    Denk jetzt nicht mehr daran, schalt sie sich, während sie über das Kopfsteinpflaster eilte.
    Ohne die Foresters wäre sie verloren gewesen, doch nun war sie in dieser historischen Stadt als Haushaltshilfe sicher untergekommen und kümmerte sich um die jungen Geistlichen, die in der Ausbildung waren. Sie putzte ihre Zimmer, wusch ihre Wäsche und half in der Mensa aus, wenn sie gebraucht wurde. Sie hielten merkwürdige Zeiten ein, doch sie hatte ein Zimmer mit Küche in der Dam Street und konnte am Abend kurz verschwinden, wenn Ella im Bettchen war, denn sie wusste, dass die alte Mrs Allsop einspringen würde, wenn die Kleine weinte.
    Dieser Brief würde alles zum Besseren wenden, aber sie brauchte den Kanonikus, der ihn zuerst durchsehen sollte. Sie konnte gut lesen, doch einige Sätze waren nicht leicht zu verdauen, und was bedeutete das mit der Eröffnung eines Bankkontos? Celeste hätte sich in solchen Dingen bestens ausgekannt, da sie aus einer Welt kam, in der Banken und Anwälte und lange Wörter ganz normal waren, eine Welt, die May nie zuvor erlebt hatte.
    Vor Weihnachten wollte sie wieder schreiben und eine Karte und ein kleines Geschenk für Roddy beifügen, gestrickte Fäustlinge. Zunächst fiel es ihr schwer, etwas zu schreiben, doch es wurde leichter, und allmählich fand sie Gefallen daran, auf Papier zu plaudern.
    Und jetzt freute sie sich darauf, Neuigkeiten über sich mitzuteilen. Dank der Ermutigung durch Kanonikus Forester hatte sie sich an den
Titanic
-Hilfsfonds in London gewandt und ihre Situation geschildert. Sie hatte nicht gelogen. Sie war Witwe und hatte ein Kind zu versorgen.
    »Sie haben ein Recht auf Entschädigung, Mrs Smith, und wenn Sie nicht danach fragen, werden Sie nichts bekommen, und es würde Ihnen und Ella das Leben erleichtern«, hatte der Kanonikus drängend gesagt.
    Sie fragte sich, welches Durcheinander der alte Mann seit ihrem letzten Besuch wohl angerichtet hatte. Er war eine Zeitlang mit seinem Sohn Selwyn im Haus der Familie draußen vor der Stadt gewesen, aber er würde nicht lange dort bleiben, denn er zog es vor, in dem kleinen Haus hinter dem Kathedralenhof zu leben.
    Niemand kannte Mays Situation, nicht einmal der Rektor des Kollegs und seine Frau. So war es besser, aber dieser Brief veränderte alles.
    Sie war beinahe versucht gewesen, Weihnachtskarten mit einer Nachricht an Freunde in Bolton zu schicken und ihre neue Lage zu schildern. Sie war sogar so weit gegangen, hübsche Karten beim Zeitungshändler auszuwählen. Aber was wäre, wenn sie zurückschrieben und sie besuchen wollten? Sie legte die Karten wieder zurück und eilte aus dem Laden, denn sie wusste, es war besser, weiter zu schweigen.
    Der Kanonikus prüfte den Brief, die Brille auf der Nasenspitze. »Sie werden fünfzehn Schillinge und Sixpence pro Woche bekommen, drei Schillinge für das Kind. Man hat einen Scheck mit Nachzahlungen beigefügt. Den müssen Sie sofort zur Bank bringen.«
    »Aber ich habe kein Bankkonto. Wie richte ich eins ein?«, fragte sie. Menschen wie sie hatten keine Bankkonten. Ihr Erspartes wurde in einer Teedose auf dem Kaminsims aufbewahrt. Das war unbekanntes

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