Schiff der tausend Träume
ihre Antwort zu warten.
May lächelte. Wie sehr er in seiner munteren, forschen Art doch Celeste ähnelte.
Sie traten durch eine Seitentür ein, und May spürte sogleich die Feuchtigkeit kalter Steine, schaute sich ehrfürchtig um und erblickte die hohe Gewölbedecke. Die Stille war überwältigend.
»Darf ich mich einen Augenblick hinsetzen?«, flüsterte sie.
»Natürlich. Ich will Sie nicht stören. Ich mache mich auf die Suche nach Mrs Phillips.«
May setzte sich mit gesenktem Kopf, Ella auf dem Schoß. Die widerhallende Weite des Kirchenschiffes ließ sie beinahe in Tränen ausbrechen. Sie war völlig erschöpft. Höchste Zeit, dass sie eine sichere Zuflucht fand. War Lichfield das Richtige? War sie es wert, hier zu sein? Wie unehrlich war sie?
Einen Tag nach dem anderen, einen langsamen Schritt vor den anderen, mehr brachte sie nicht zustande.
Ella musste ein gutes Leben weit weg von kalten Waisenhäusern bekommen. Warum dann nicht hier? Die Wahrheit über ihre Geschichte müsste nie bekannt werden, auch würde es niemandem nutzen herumzustöbern. Ihre wahre Geschichte war mit dem Schiff untergegangen. Die Lügen dieses neuen Lebens dienten alle einem guten Zweck.
May sah den alten Mann und eine stämmige Frau, die zielstrebig auf sie zukamen. Ihre Schritte hallten auf den Steinfliesen. Sie wappnete sich, um ihnen gegenübertreten zu können, wohl wissend, dass es ihre und Ellas einzige Chance war.
Ella war eine Waise, und die zärtliche Fürsorge einer Mutter war durch nichts zu ersetzen. Aber hier war sie nun, eine Mutter ohne Kind, bereit, die kostbare Aufgabe zu übernehmen. Wie Mutterschaf und Lamm waren sie. May lächelte. Warum sollten sie nicht zusammen sein?
Sie erhob sich, um die Frau zu begrüßen. »Hallo, Mrs Phillips. Ich bin May Smith, und das ist meine Tochter Ella. Ich hoffe, Sie können uns helfen.«
34
Das
Titanic
Survivors’ Committee wartete, bis die
Carpathia
aus Neapel eintraf und an ihrem Liegeplatz in New York anlegte. Was für ein Unterschied zu ihrer letzten historischen Reise in der Dunkelheit, sinnierte Celeste und folgte der Reihe von Seidenkleidern und schicken Hüten über die Gangway hinauf, nicht ohne ein ängstliches Schaudern. Wie konnte sie je wieder an Bord eines Schiffes gehen?
Dennoch hatte May sich bereitwillig nur wenige Tage nach der Katastrophe ins Ungewisse aufgemacht. Daher musste sie ihre Angst ebenfalls schlucken. Das war nur ein Besuch, um Himmels willen, der längst überfällig war. Margaret Brown hatte den silbernen Pokal bei sich, den sie hatten gravieren lassen, und viele Überlebende sollten anwesend sein: Frederick Seward, Karl Behr, das Tennis-Ass, sowie Mr Frauenthal, ein deutscher Industrieller, begleiteten sie.
Sie warteten, bis alle Passagiere vom Schiff waren, und Kapitän Rostron seine Besatzung zusammenrief. Noch immer waren mehr als zweihundert der ursprünglichen Besatzungsmitglieder an Bord, ein paar vertraute Gesichter tauchten auf. Offiziere und Maschinisten standen in Reih und Glied zusammen, schicke Offiziere in Marineblau neben Matrosen in nussbraunem Arbeitszeug, von Kohle geschwärzte Heizer, alle waren anwesend, wie es sich gehörte.
Celeste war stolz, dem Komitee der Überlebenden anzugehören. Diesmal hatte sie einen Vorwand gebraucht, um wegzukommen, natürlich begleitet von ihrer Schwiegermutter Harriet Parkes, die pikiert darüber war, nicht an der eigentlichen Zeremonie teilnehmen zu können, hatte sie doch gehofft, neben den Schönen und Reichen von New York gesehen zu werden.
Dieser Ehrgeiz war es, der Grover davon überzeugt hatte, dass es den Direktoren der Diamond Rubber Company nicht schaden würde, eine großzügige Spende zu leisten.
Celestes Schwiegermutter hatte die Damenschneider in Cleveland heimgesucht, um etwas Passendes für den Anlass zu finden. Celeste weigerte sich, etwas anderes als Schwarz zu tragen. Sie trauerte noch immer um ihre Mutter, wenn sie nicht in Grovers Sichtweite war, zog im Haus jedoch gedämpftes Lila und Grau an.
Je mehr sie über Margaret Brown in den Zeitungen sah und las, die jetzt die Heldin der Nation war, desto mehr bewunderte sie deren tatkräftige Entschlossenheit, dafür zu sorgen, dass dieses Komitee noch gegründet wurde, bevor sie das Schiff verließen. Die inzwischen gesammelte Summe belief sich auf Hunderttausende von Dollar. Auch Celeste hatte Spenden beschafft, den Verkauf von selbstgemachten kunstgewerblichen Arbeiten und Gemälden organisiert, Teerunden,
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