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Schiffsdiebe

Schiffsdiebe

Titel: Schiffsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Hannes; Bacigalupi Riffel
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Strand hinauf, als wollte das Meer sich der Küste bemächtigen.
    Sein Vater behauptete jedes Jahr, die Stürme würden schlimmer werden, aber so etwas hatte Nailer noch nie erlebt. Er wandte sich zu der Hütte um.
    » Papa!«, rief er. » Alle fliehen die Dünen hinauf! Wir müssen weg von hier!«
    Sein Vater reagierte nicht. Die Nachtkolonnen schwärmten von den Wracks herunter. Männer und Frauen kletterten Hanfleitern hinab oder sprangen wie Flöhe vom Rücken eines Hundes in die Wellen. Jedes Mal, wenn es blitzte, zeichneten sich die gewaltigen Schiffsrümpfe vor dem taghellen Himmel ab; dann verschwand alles wieder in der Finsternis. Regen peitschte über den Strand.
    Nailer lief in der Hütte hin und her, auf der Suche nach Dingen, die es zu retten lohnte. Er schlüpfte in seine Kleider, schnappte sich die Leuchtfarbe und fand schließlich den silbernen Ohrring und den Beutel mit Reis, den er geschenkt bekommen hatte. Das Haus knarrte und krängte, als eine besonders starke Bö darüber hinwegfegte. Bambus und Wellblech würden nicht mehr lange halten.
    Das war bestimmt ein Städtekiller – manche Leute sagten auch Partybombe oder Orleans-Welle dazu. Als Nailer durch das Fenster hinausschaute, sah er Männer, Frauen und Kinder auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht über den Strand rennen. Schattenhafte Gestalten lösten sich aus der Dunkelheit und stemmten sich gegen den Vorhang aus Wind und Wasser, bevor sie weitereilten. Wahrscheinlich versuchten sie, die schweren Zugwaggons zu erreichen, die vielleicht dem Unwetter widerstehen würden.
    Nailer schleppte ihre sämtlichen Besitztümer zu seinem Vater hinüber, der noch immer reglos dalag. Er zog das Laken vom Bett und versuchte mit einer Hand, das Nötigste hineinzuschieben und es zu einem Bündel zusammenzuknoten. Seine Schulterwunde brannte bei der hektischen Anstrengung. Immer mehr Regen strömte durch das sich auflösende Dach herein. Sein Vater war bereits tropfnass, aber er regte sich noch immer nicht.
    Nailer packte einen tätowierten Arm. » Papa!«
    Keine Reaktion.
    » Papa!« Nailer schüttelte ihn erneut. Grub seine Fingernägel in das mit Drachen verzierte Fleisch. » Wach auf!«
    Richard Lopez, von Alkohol und Amphetaminen völlig betäubt, schien rein gar nichts mitzubekommen.
    Nailer kauerte sich hin und dachte nach.
    Falls der Städtekiller sie mit voller Wucht treffen sollte, würde nichts mehr übrig bleiben. Er hatte gehört, dass das Wasser bis zu einer Meile landeinwärts ansteigen und Strände und Bäume in ein einziges Sumpfland verwandeln konnte – eine neue Küstenlinie, die den steigenden Meeresspiegel markierte. Ein heftiger Sturm konnte sogar die Wracks der Tanker erfassen und sie über den Strand schieben, direkt über ihre Hütte, falls sie nicht schon vorher weggeblasen wurde.
    Nailer richtete sich auf, packte das Laken und wuchtete ächzend die schwere Last in die Höhe. Als er die Tür erreichte, fuhr ihm der Wind ins Gesicht – Regen und Sand und Blätter peitschten auf ihn ein. Immer schneller zuckten Blitze auf den Strand herab. In dem flackernden Licht sah er einen Hühnerstall vorbeisegeln; er war leer – die Tiere waren dem grauen Getöse zum Opfer gefallen. Nailer blickte zu seinem Vater zurück und kämpfte mit seinen widerstreitenden Gefühlen.
    Lopez rührte sich noch immer nicht. Die Neurotransmitter in seinem Gehirn waren so dezimiert, dass nicht einmal das Gewitter ihn wecken konnte. Nach einem besonders schlimmen Absturz konnte sein Vater manchmal zwei Tage lang ununterbrochen schlafen. Normalerweise war Nailer froh um die Ruhe. Es wäre so einfach …
    Nailer setzte den Sack mit ihren Besitztümern ab. Sich für seine Dummheit verfluchend warf er sich dem Sturm entgegen. Richard Lopez war ein Säufer und ein Schweinehund, aber er war trotzdem sein Vater. Sie hatten die gleichen Augen, dieselben Erinnerungen an seine Mutter, sie aßen dasselbe Essen, tranken denselben Schnaps … eine andere Familie hatte er nicht.
    Ein Mahlstrom aus Sand, Kupferschrauben und Plastikscherben prasselte auf ihn ein und riss ihm die Haut auf, während er barfuß den Strand entlang zu Pimas Hütte rannte. Rostflocken, abgelöste Isolierung, eine Kabelrolle. Abfälle, die wie Messerklingen durch die Luft flogen.
    Eine Windbö zwang Nailer auf die Knie, sodass er nur noch kriechen konnte. Schmerzen durchzuckten seine Schultern. Eine Stahlplatte segelte über ihn hinweg – vielleicht ein Stück von einem Dach oder auch ein

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