Schiffsdiebe
wieder das Gras, wurden emporgeschleudert. Sie sah aus wie eine Lumpenpuppe, die an einer Schnur baumelte. Gleich würde sie unter die Räder geraten. Nailer befürchtete das Schlimmste, doch sie zog die Beine an und kletterte an der Seite des Waggons hinauf. Sie hakte sich in der Leiter ein und schaute zu ihnen zurück. Die Entfernung zwischen ihnen wurde schnell größer.
» Gleich ist der Zug vorbei«, rief Tool.
Nailer nickte. Atmete noch einmal tief durch und rannte los.
Fast sofort wurde ihm klar, warum Nita sich nicht umgewandt hatte. Der Boden neben den Schienen war uneben, was aus der Ferne nicht zu erkennen gewesen war. Nailer musste geradeaus schauen, sonst würde er stolpern.
Der Zug neben ihm war so schnell und laut, dass ihm davon ganz schwindlig wurde. Waggon um Waggon schoss an ihm vorbei. Jeden Moment befürchtete er, unter die Räder gerissen zu werden. Er rannte, so schnell es ihm bei diesem unebenen Boden möglich war, doch die Leitern schienen noch immer unerreichbar zu sein.
Wie in drei Teufels Namen hatte sie das nur geschafft? Er warf einen Blick über die Schulter, und fast hätte er das Gleichgewicht verloren. Er fing sich im letzten Moment und zwang sich, geradeaus zu schauen. Erhöhte sein Tempo. Zählte die Leitern. Eins, zwei. Während ein Waggon vorbeirauschte, konnte er bis drei zählen, und dann waren ganz kurz wieder zwei Leitern neben ihm. Er betete zu Pearlys Ganesha und zu den Parzen. Eins, zwei. Pause, eins zwei, drei. Eins, zwei.
Die erste Leiter flog vorüber. Nailer griff nach der zweiten. Sie schlug ihm gegen die Hand, und er drehte sich im Kreis. Stolperte, stürzte, rollte über Schotter und Unkraut, blieb liegen. Waggons rasten vorbei, während er betäubt im Dreck lag. Blut rann ihm über Knie und Hände. Seine Schulter tat ihm entsetzlich weh.
Tool sauste vorüber; er hielt sich an einer Leiter fest, als wäre es ein Kinderspiel. Der Halbmensch blickte auf Nailer hinab, die gelben Augen völlig ausdruckslos.
Nailer rappelte sich auf. Nita war fast nicht mehr zu sehen. Er rannte los. Das Ende des Zuges kam immer näher. Nailer hatte sich die Beine zerschrammt und hinkte leicht. Seine Schulter fühlte sich an, als wäre die Wunde wieder aufgebrochen. Schneller konnte er einfach nicht rennen. Leitern rasten vorbei. Wieder zählte er mit. Warf einen Blick zurück. Nur noch ein Waggon.
Jetzt oder nie!
Nailer legte einen letzten Sprint hin und sprang. Statt eine Sprosse zu umklammern, packte er mit beiden Händen die Holme. Seine Arme wurden ihm fast aus den Schultern gerissen, aber er ließ nicht los. Seine Füße schleiften über Steine, was entsetzlich wehtat, doch dann rollte er sich zu einer Kugel zusammen.
Der Boden glitt rasend schnell unter ihm hinweg. Der Wind zerrte an seinen Kleidern, und er bekam fast keine Luft. Sprosse um Sprosse zog er sich nach oben, möglichst weit weg von der steinigen Böschung. Ein weiterer Griff, und dann hatte er es geschafft – er stand auf der untersten Sprosse, während der smaragdgrüne Dschungel so schnell an ihm vorbeiglitt, dass die Bäume verschwammen. Seine Arme zitterten; sein ganzer Körper kribbelte vor Adrenalin. Die Beine drohten ihm nachzugeben. Aber er riss sich zusammen, stieg höher hinauf, bis er das Dach des Waggons erreicht hatte und den Zug entlang nach vorne schauen konnte.
Seine Füßen waren zerschrammt, seine Knie blutig und seine Hände wund. Aber er hatte es geschafft. Nita und Tool beobachteten ihn von weit vorne. Nita winkte. Er winkte müde zurück, hakte dann den Arm in der Leiter ein und atmete tief durch. Irgendwann würde er sich über die Dächer der Waggons zu ihnen vorarbeiten müssen, aber jetzt wollte er sich nur ausruhen. Absurderweise fühlte er sich zum ersten Mal seit Tagen sicher, und das auf einem dahinrasenden Zug. Er blickte über die Schulter zurück. Die Schienen wurden vom dichten Dschungel verschluckt. Der Zug trug ihn mit jeder Minute weiter von seiner Vergangenheit fort.
Unwillkürlich musste er lächeln. Ihm tat alles weh, aber er war am Leben, und sein Vater entfernte sich immer weiter von ihm. Was auch immer vor ihm liegen mochte, es war bestimmt besser als das, was hinter ihm lag. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keine Angst vor Richard Lopez.
Gleichzeitig musste er an Pima und ihre Mutter denken, die noch immer jeden Tag auf den Tankern würden schuften müssen, der Rache seines Vaters ausgesetzt. Er machte sich Sorgen um sie. Im Eifer der Flucht hatte er
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