Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
schwungvollen Bewegung beförderte sie das Häubchen auf die Wäschetruhe.
„Später vielleicht“, sagte ich. „Erst müssen wir sie näher kennen lernen. Sonst besteht die Gefahr, dass sie uns doch noch in eine Anstalt einweisen oder als Hexen anklagen lässt“, sagte ich und bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken. „Außerdem hast du ihr ja schon genug erzählt.“
Ich lachte und knuffte Karin gegen die Schulter.
„Woher weißt du das alles über die Revolution? Kein Mensch merkt sich solche Daten.“
„Ich schon“, sagte Karin stolz. „Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert. Also hört gut zu, das können wir vielleicht noch brauchen. Ich weiß zum Beispiel, dass der Sturm auf die Bastille 1789 der Beginn der Französischen Revolution war und dass 1793, also in drei Jahren, König Ludwig XVI. und Königin Marie Antoinette sowie fast der gesamte Hochadel der Guillotine zum Opfer fallen werden. Erst 1799 macht Napoleon der Französischen Revolution ein Ende. Das ahnt hier natürlich noch niemand, also müsst ihr vorsichtig mit euren Bemerkungen sein.“
„Napoleon lebt? Jetzt?“, fragte ich entgeistert und ließ mich schwer auf das Bett sinken.
Der Lavendelduft umwehte mich geradezu aufdringlich. Ich forderte Karin durch meinen gespannten Blick auf weiterzuerzählen. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch das kurze Haar und schaute dabei nachdenklich an die Zimmerdecke.
„Er dürfte zurzeit zwar erst Leutnant in der französischen Armee sein, aber er hat sich dort bestimmt schon einen Namen gemacht. Ich glaube, so in fünf Jahren erobert er als General Österreich.“
In der Schule hatte ich einmal eine Eins für ein Referat über ihn bekommen. Ich wusste noch, welche Unterwäsche er trug, aber geschichtliche Jahreszahlen konnte ich mir nicht merken. Von einem Augenblick zum nächsten in einer völlig anderen Zeit zu leben hatte durchaus seine Faszination. Und zur selben Zeit wie Napoleon zu leben fand ich überaus spannend. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, ihm zu begegnen und mehr über ihn zu wissen als er selbst. Ihm zu sagen, dass er für die kommenden Generationen in aller Welt die Geschichtsbücher füllen würde und dass ihn jeder an seiner Haltung mit der Hand zwischen den Knöpfen seiner Jacke erkennen konnte. Angenommen, er würde hier und heute eine Affäre mit mir anfangen, obwohl ich mir das nicht im Traum wünschte, war er doch mit seiner Körpergröße von nicht mehr als einen Meter sechzig und seinen kaiserlichen Allüren nicht gerade mein Typ. Doch gesetzt den Fall, und ich würde einen Weg finden, nach Hause zurückzukehren, würde dann auch mein Name in den Geschichtsbüchern stehen? Ich musste lachen, was für eine groteske Situation.
Karin half mir beim Aufschnüren des Mieders, und ich begann zu verstehen, warum die feinen Damen damals nicht auf eine Kammerzofe verzichten konnten. Nachdem wir uns gegenseitig hilfreich zur Hand gegangen waren, gingen wir gegen zehn Uhr zu Bett und diskutierten über die Möglichkeit, die Vergangenheit mit Auswirkungen auf die Zukunft beeinflussen zu können. Leider fiel uns kein berühmter Gelehrter aus dieser Zeit ein, den wir hätten einweihen und um Rat fragen können.
In der Vorstufe zum Schlaf, in der die Gedanken unkontrolliert und nur noch halb wahrnehmbar durch das entspannte Bewusstsein ziehen, nahm ich ein raschelndes Geräusch an der Tür wahr.
Am nächsten Morgen wurden wir von Lisa geweckt. Ich hob verschlafen den Kopf und realisierte nur langsam, dass ich mich noch immer im Jahr 1790 befand. Der Geruch von Lavendel und die mitten im Zimmer stehende Lisa holten mich in die Wirklichkeit.
Neugierig sah sie sich um, und als sie meinen Blick bemerkte, senkte sie demütig das Haupt und verließ schnell den Raum. Wie seltsam. Sollte sie nicht an die Tür klopfen, anstatt einfach hereinzukommen? Wahrscheinlich war die kindliche Neugier stärker als ihre gute Erziehung.
Wir standen Schlange vor der Toilette im Hof und an unserer Waschschüssel. Eine Dusche wäre mir lieber gewesen, aber Karin wusste zu berichten, dass die Reinigung der Haut durch Waschen in diesem Jahrhundert als eine Neuentdeckung galt und wir mit dem spärlich zur Verfügung gestellten Wasser auskommen mussten, weil wir sonst unangenehm auffallen würden. Ich machte mir mehr Gedanken darüber, durch meinen Körpergeruch unangenehm aufzufallen. Karin erklärte uns bei dieser Gelegenheit, dass der Ausspruch „schau nach, ob die Luft rein
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