Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
scheint Teil einer Reisepauschale zu sein, die ich zwar nicht abgeschlossen habe, aber trotzdem nutzen darf. Die Passagiere sprechen lauter als nötig, es herrscht eine irgendwie programmatische Fetenmotivation, wie ich sie eher von den Sechzigjährigen zu kennen glaubte. Diese Jugendlichen verhalten sich, als wären selbstbewusste Zusammenkünfte unter Alkoholeinfluss die tollste Sache der Welt. Und damit liegen sie ja normalerweise auch richtig, doch im Augenblick wird mir fast übel vom Sektgeruch. In der ersten Stunde lehne ich jeden Plastikbecher noch ab, um dann ab der zweiten Stunde umso entschlossener zuzugreifen. Da die gerösteten Nüsse und Weingummis der Hinfahrt nicht besonders nahrhaft waren, bin ich recht bald angetrunken und beginne mit Gesprächen, die mir in nüchternem Zustand zuwider wären. Einem zweiundzwanzigjährigen Schweizer erzähle ich, dass ich in den letzten Wochen das Gefühl hatte, dass CobyCounty in Gefahr ist. Der junge Schweizer hört mir interessiert zu, also erwähne ich auch Wesley und dass wir uns schon lange kennen, seit über vierzehn Jahren. Und dann sage ich, dass Wesley vielleicht eine Person ist, die eher davon ausgeht, was theoretisch möglich wäre, während ich eine Person bin, die eher von dem ausgeht, was sichtbar ist. Diese Unterscheidung zwischen Wesley und mir habe ich vorher noch nie so ausgesprochen, fällt mir auf, sie ist in gewisser Weise auch eben erst entstanden, also während ich trinkend von ihm erzählt habe. Der Schweizer findet einen wissenschaftlichen Begriff für Wesleys Geisteshaltung, doch ich vergesse diesen Begriff sofort wieder, weil ich noch zu sehr damit beschäftigt bin, mich über diese neue Unterscheidung zwischen Wesley und mir zu wundern.
Als der Zug den Bahnhof von CobyCounty erreicht und alle aussteigen müssen, werde ich von dem Schweizer und auch von einigen anderen Passagieren herzlich umarmt. Ich drücke zurück, ohne einschätzen zu können, ob ich meinerseits ebenso herzlich oder eher verstockt wirke. Es ist mitten in der Nacht. In der Bahnhofshalle denke ich, dass es schon bald Tag werden könnte, und versuche zu verstehen, dass ich nicht einmal vierundzwanzig Stunden weg gewesen bin. Ich schaue an mir herunter. Ich trage dasselbe Hemd wie in dem Fischrestaurant, als mein Dad die Apfelsaftschorlen bezahlt hat. Wahrscheinlich bin ich im Augenblick nicht nur betrunken, sondern von diesen beiden langen Fahrten auch so übermüdet, dass ich friere, als ich den Bahnhof verlasse. Es weht ein strenger, fast herbstlicher Wind, und ich drehe beim Gehen die Sporttasche vor meine Brust, um mich zu schützen.
Gegen Mittag weckt mich Wesleys Klingeln. Ich öffne die Wohnungstür in weißer Unterwäsche. Wesley verzichtet darauf, den Hauslift zu nehmen, er geht die Treppenstufen nach oben. Seine Collegejacke ist ihm ein wenig zu groß, sie hängt offen an ihm herunter, und sein noch länger gewordenes Haar scheint frisch gewaschen zu sein.
»Woher wusstest du denn, dass ich schon wieder da bin?«
»Du hast mir gestern Nacht noch eine SMS geschickt. Mit zwei orthografischen Fehlern. Warst du betrunken?«
In der Küche setze ich Wasser auf. Wesley fragt, wohin ich mit dem Zug habe fahren wollen. Ich sage, dass ich kein genaues Ziel hatte, und Wesley nickt, als wäre das eine gute Sache, als wisse er genau, von was ich rede.
»Ich musste an deine Aussagen in der Passage denken. Und dann dachte ich, dass wir uns vielleicht irgendwo treffen könnten. Wir hatten ja oft einen ziemlich ähnlichen Geschmack …«
»Du wolltest in die USA?«
»Nein.«
Gerade als das Wasser zu kochen beginnt, fragt Wesley: »Und wann hat sich Carla von dir getrennt?« Ich schaue ihn wortlos an. »Wim, das hat sich ewig angedeutet. Das ist natürlich keine Überraschung.«
Ich nicke: »Vor zwei Wochen ungefähr.«
»Ungefähr?«
»… Vor zwölf Tagen. Am fünfundzwanzigsten Februar.« Ich klinge jetzt, in meiner weißen Unterwäsche dasitzend, etwas ungehalten, da mir Wesley in seiner offenen Collegejacke einen Tick zu selbstgerecht erscheint. Normalerweise trinken wir schwarzen Tee mit Milch oder den starken Kaffee aus der Agentur. Heute gibt es grünen Tee, aber Wesley lässt diese Entscheidung unkommentiert zwischen uns stehen. Eine Weile nippen wir an unseren Tassen, während die Mittagssonne grell durchs Fenster fällt. Wenn man wollte, könnte man in der breiten Lichtbahn den Küchenstaub zirkulieren sehen.
»Warum bist du zurück? An welche
Weitere Kostenlose Bücher