Schindlers Liste
erwiderte beleidigt: »Selbstverständlich kann ich deutsch lesen«, nahm das Dokument aber auf eine Weise zur Hand, die vermuten ließ, daß er überhaupt nicht lesen konnte er hielt es wie eine Scheibe Brot. Pfefferberg erläuterte, daß dies die Erlaubnis sei, sich jederzeit frei bewegen zu dürfen. Der Posten sah nur die Stempel und winkte Pfefferberg zum Ausgang. Pfefferberg war der einzige Fahrgast in der Linie, denn es war noch nicht einmal 6 Uhr früh. Der Schaffner verkaufte ihm anstandslos einen Fahrschein -es waren viele polnische Soldaten in der Stadt, die noch nicht in Lager gebracht worden waren; die Offiziere mußten sich registrieren lassen, das war vorderhand alles. Die Bahn fuhr um den Barbakan, durch das alte Stadttor, die Florianska hinunter zur Marienkirche, über den Ring und in die Grodzkastraße. Unweit der elterlichen Wohnung im Haus Nummer 48 sprang Pfefferberg, wie er es gewohnt war, von der noch fahrenden Bahn ab und ließ sich vom Schwung an die Haustür tragen.
Nach dieser Flucht wohnte er in den Wohnungen von Freunden und besuchte die Eltern nur gelegentlich. Die jüdischen Schulen nahmen den Unterricht wieder auf — sechs Wochen später wurden sie geschlossen, und er ging sogar wieder seinem Beruf nach. Weil er glaubte, es werde noch einige Zeit dauern, bis die Gestapo sich
nach ihm umsähe, beantragte er Lebensmittelkarten und handelte mit Juwelen auf dem schwarzen Markt, der sich auf dem Ring, unter den Arkaden der Sukiennice und im Schatten der ungleich hohen Türme der Marienkirche auftat. Hier herrschte reges Treiben, denn nicht nur die polnischen Juden waren auf den schwarzen Markt angewiesen, sondern auch die nichtjüdischen polnischen Bürger. Der schwarze Markt, der während der jahrhundertelangen Fremdherrschaft und der kurzen Spanne polnischer Autonomie bestanden hatte, war eine unverzichtbare Institution; hier kauften und verkauften auch angesehene Bürger, insbesondere aber Leute, die sich wie Pfefferberg auf den Straßen heimisch fühlten.
Er beabsichtigte, sich demnächst auf Skiern durch die Tatra nach Ungarn oder Rumänien abzusetzen; als Mitglied der polnischen Ski-Nationalmannschaft fühlte er sich zu einem solchen Unternehmen durchaus imstande. Auf dem Kachelofen in der Wohnung seiner Mutter hielt er eine elegante Damenpistole versteckt, die ihm entweder auf der Flucht oder bei einem unerwarteten Besuch der Gestapo nützlich sein sollte. Und mit diesem Spielzeug mit dem Perlmuttgriff hätte er beinahe an einem kalten Novembertag Schindler erschossen. Dieser, im eleganten Zweireiher, das Parteiabzeichen am Aufschlag, suchte Pfefferbergs Mutter, weil er einen Auftrag für sie hatte. Die deutsche Behörde hatte ihm in der Straszewskiegostraße eine schöne, ehedem der jüdischen Familie Nußbaum gehörige Wohnung zugewiesen. In solchen Fällen wurden die Wohnungseigentümer für ihr Mobiliar nicht entschädigt. Frau Pfefferberg erwartete übrigens jeden Tag, selber aus ihrer Wohnung vertrieben zu werden.
Von Schindlers Freunden wurde später behauptet dies ist aber nicht zu beweisen , er habe Nußbaums in ihrem Quartier in Podgorze aufgesucht und ihnen 50 000 Zloty übergeben, was ihnen die Flucht nach Jugoslawien ermöglicht habe. Mit einer derartigen Zahlung hätte Schindler bewiesen, daß er das Vorgehen der Behörden mißbilligte, und tatsächlich machte er vor Weihnachten noch mehrere derartige Gesten. Bei seinen Freunden galt seine Großzügigkeit schon als beinahe krankhaft, wie eine Art Besessenheit. So gab er Taxichauffeuren Trinkgelder, die mehr als das Doppelte des Fahrpreises betrugen. Immerhin sagte er schon damals, und nicht erst, als die Lage für Deutschland prekär wurde, zu Stern, er halte das Vorgehen der Behörden im Fall der Wohnungsbeschlagnahmungen für ungerecht.
Frau Pfefferberg nun ahnte jedenfalls nicht, was dieser hochgewachsene, gutgekleidete Deutsche von ihr wollte. Möglich, daß er ihren Sohn suchte, der sich gerade in der Küche aufhielt, möglich auch, daß er es auf ihre Wohnung, ihr Atelier für Innenarchitektur, ihre Antiquitäten, ihre französischen Gobelins abgesehen hatte.
Bis zum Laubhüttenfest im Spätherbst hat sich die deutsche Polizei im Auftrag der Wohnungsbehörde dann wirklich bis zu Pfefferbergs durchgearbeitet und ihnen befohlen, die Wohnung augenblicklich zu räumen. Weder erlaubte man Frau Pfefferberg, einen Mantel mitzunehmen, obschon es bitter kalt war, noch ihrem Mann, eine alte goldene Taschenuhr
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