Schindlers Liste
hochgezogen. Die Türen der Straßenbahnen sollten bei Einfahrt ins Getto verschlossen werden, die Bahnen nicht anhalten, bevor sie Ecke Lwowska-und Kingistraße wieder arisches Territorium erreichten. Selbstverständlich würde das nicht alle Leute davon abhalten, die Straßenbahnen zu benutzen. Verschlossene Türen, keine Haltestellen, Maschinengewehre auf der Mauer - das nützte alles nichts. Die Menschen sind in dieser Hinsicht unverbesserlich.
Ein loyales polnisches Dienstmädchen mit einem Wurstpaket für die jüdische Herrschaft würde abspringen, ein athletischer junger Mensch wie Leopold Pfefferberg, in der Tasche Diamanten, Besatzungsgeld oder eine verschlüsselte Meldung für die Partisanen würde aufspringen. Keine Chance war so gering, daß nicht irgendwer sie nützen würde, egal ob die Türen verschlossen waren, die Fahrt ohne Halt zwischen Mauern hindurchführte.
Ab dem 20. März 1941 sollten Schindlers Arbeitskräfte keinen Lohn mehr von ihm bekommen und nur noch von ihren Rationen leben. Statt dessen würde Schindler an die SS in Krakau Miete für seine Arbeiter zahlen. Schindler war dabei ebenso unwohl wie Madritsch, denn beide wußten, irgendwann einmal geht der Krieg zu Ende, und dann stehen die Sklavenhalter, ganz wie ehedem in Amerika, nackt und entehrt am Pranger. Er sollte pro gelernten Arbeiter täglich 7,50 RM und für ungelernte Arbeiter und Frauen 5,- RM an das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt abführen. Der Tarif lag eine Spur niedriger als der auf dem Arbeitsmarkt. Moralische Bedenken überwogen sowohl bei Schindler wie bei Madritsch die Freude am Profit. Überdies waren Löhne Schindlers geringste Sorge in jenem Jahr. Auch war er nie ein in der Wolle gefärbter Kapitalist gewesen. Sein Vater hatte ihm ehedem oft vorgeworfen, er gehe leichtsinnig mit Geld um. Noch als Angestellter hatte er sich bereits zwei Autos geleistet in der Hoffnung, sein Vater möge davon hören und sich empören. Jetzt, in Krakau, besaß er einen ganzen Stall voll - einen belgischen Minerva, einen Maybach, ein Adlerkabriolett, einen BMW.
Ein Verschwender und zugleich reicher zu sein als der umsichtige Vater, das wünschte Schindler sich. In Boomzeiten wie diesen kam es auf Lohnkosten überhaupt nicht an.
Madritsch ging es nicht anders. Seine Textilfabrik stand im westlichen Teil des Gettos knapp zwei Kilometer von Schindlers Emailwarenfabrik entfernt. Er verdiente so gut, daß er erwog, ein Zweigwerk in Tarnow zu eröffnen. Auch er war bei der Rüstungsinspektion gut angeschrieben und galt für so kreditwürdig, daß ihm die Emissionsbank eine Million Zloty geliehen hatte.
Als Stern und Ginter, ein Unternehmer und Beauftragter des Judenrates, Schindler und Madritsch baten, doch so viele Juden zu beschäftigen, als sie irgend unterbringen könnten, stimmten beide zu. Sinn der Sache war, dem Getto eine gewisse wirtschaftliche Dauerhaftigkeit zu verleihen; Stern und Ginter waren damals der Meinung, daß ein Jude, der für das arbeitskräftehungrige Reich von Nutzen war, dadurch vor Schlimmerem bewahrt bliebe.
Zwei Wochen lang schoben die Juden ihre Karren durch Kazimierz und über die Brücke nach Podgorze. Manchen gutbürgerlichen Familien wurde dabei von ihren polnischen Dienstboten geholfen. Am Boden der Karren, unter Matratzen und Haushaltsgerät, lagen der letzte Schmuck, die letzten Pelze. Entlang der Stradom-und der Starovislnastraße standen Polen, verhöhnten die Juden und bewarfen sie mit Dreck. »Die Juden ziehen ab! Die Juden ziehen ab! Auf Nimmerwiedersehen!« Die neuen Bürger des Gettos wurden jenseits der Brücke von einem hübsch verzierten weißen Tor begrüßt. Es war mit Schnitzwerk versehen und wies zwei breite Bögen auf, durch welche die Straßenbahnen von und nach Krakau fahren würden. An einer Seite stand ein Schilderhaus. Über den Bögen las man in hebräischen Zeichen die tröstliche Inschrift JUDENSTADT. Nach dem Fluß hin zog sich ein hoher Stacheldrahtzaun, und unbebautes Gelände war mit oben abgerundeten, etwa drei Meter hohen Zementplatten gesperrt. Sie wirkten wie Grabsteine für unbekannte Verstorbene.
Wer mit seinem Karren durch das Tor kam, wurde von Beauftragten des Wohnungsressorts des Judenrates empfangen. Größere Familien erhielten zwei Räume zugeteilt, mit Küchenbenutzung. Für alle, die sich in den guten zwanziger und dreißiger Jahren an komfortable Wohnungen gewöhnt hatten, war es schlimm, auf so engem Raum mit anderen, die unterschiedliche religiöse
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